Falkengrund Nr. 32
hätte auch jemand goutieren können, der des Lesens nicht mächtig war – großformatige Bildbände, in denen alle Spielarten des Modeschaffens erfasst waren. Mama blätterte gerne darin, und er spornte sie dazu an.
Irgendwann hatte sie genug davon und wandte sich einem verhältnismäßig kleinen Regal zu, in dem Bücher zu den unterschiedlichsten Themen standen: Geschichtswerke, Literarisches und zwei, drei Bändchen über Folklore. In einem der letzteren waren legendäre Geschöpfe aufgeführt, wie sie in England, Schottland, Wales und Irland zu finden waren – die Dryaden und die Brownies, die Meerleute, die Feen und zahlreiche andere, von denen sie nie etwas gehört hatte. Sie hätte dem Buch keine Aufmerksamkeit geschenkt, wäre nicht seinerzeit auf der Fahrt aus London das Gespräch auf die Elben gekommen, auf die Sith, wie MacNorras sie nannte.
Mama brauchte eine Weile, um den dazugehörigen Eintrag zu finden, denn der Name wurde wie das englische Wort „she“ ausgesprochen, und sie hatte an der falschen Stelle gesucht. Während sie den Text las, fiel ihr auf, dass sich eine Seite etwas weiter vorne im Buch herauswölbte. Sie schlug die Stelle auf und sog den Atem vor Überraschung tief ein.
Das kleine Bändchen enthielt farbige Illustrationen, und die Doppelseite, die sie geöffnet hatte, zeigte links das Bild einer wunderlichen Kreatur.
Das Geschöpf hatte den Körperbau eines Kleinkindes, doch die Züge eines alten Mannes. Es trug tiefrote Kleidung, besonders auffallend leuchtete die rote Mütze auf dem Kopf. Lange graue Haarsträhnen wuchsen unter der Kopfbedeckung hervor, eine riesige Nase dominierte das Gesicht, und der Mund war von einem schwer zu beschreibenden, widerwärtigen Ausdruck verzogen. Die Gestalt wirkte erfüllt von einer unendlichen Arroganz und einer Kälte, wie man sie einem aus den Augen eines Haifischs entgegenblitzen mochte.
Auf der rechten Seite musste die Erklärung zu diesem Wesen stehen. Doch man konnte nichts davon lesen. Jemand hatte mit einem schwarzen Kugelschreiber jedes einzelne Wort, nein, jeden einzelnen Buchstaben, gründlich übermalt. Der Titel des Artikels bestand aus sechs Lettern – mehr konnte man nicht sagen.
Die junge Frau betrachtete das Bild wie etwas Verbotenes. Ihr war schon aufgefallen, dass der Illustrator die unterschiedlichen Persönlichkeiten der Fabelwesen ausdrucksstark hervorzuheben vermochte. Bei diesem Bild hatte er sich selbst übertroffen. Man musste kein Kind sein, um davon Albträume zu bekommen.
Hatte Nevin den Text unlesbar gemacht? Warum? Stand etwas darin, was niemand zu Gesicht bekommen durfte? Oder konnte er selbst den Inhalt dieses Artikels nicht ertragen?
Sie verließ die Bibliothek, um ihn zu fragen. Dann überlegte sie es sich anders, ging in die Küche und legte der Köchin das Buch vor.
„Wissen Sie, was dieses Bild darstellt?“, wollte sie wissen.
Wenn Mama erwartete hatte, die Frau erschrecken zu sehen, wurde sie enttäuscht. „Ein Zwerg“, antwortete die Hausangestellte und streifte die übermalte Seite nur mit einem gleichgültigen Blick. „Oder vielleicht ein Kobold.“
„Über Zwerge und Kobolde gibt es Einträge an anderen Stellen im Buch“, ließ Mama nicht locker. „Es muss etwas Besonderes sein.“
„Sorry, dear, das sagt mir nichts. Fragen Sie doch Mr. MacNorras – er interessiert sich ein wenig für solche Dinge.“
„Tut er das?“
„Er ist immerhin Schotte. Schotten glauben sogar an Brownies. Das sind Heinzelmännchen, die einem bei der Hausarbeit helfen. Also, ich habe in meiner Küche noch keinen dieser Burschen gesehen.“
Mama bedankte sich. Anstatt sich an Nevin zu wenden, tat sie jedoch etwas anderes. Im Impressum des Buches fand sich die Anschrift des Mannes, der es geschrieben hatte, eines Professors für Völkerkunde von der Universität Edinburgh. Sie griff zum Telefon und erkundigte sich bei der Auskunft nach der Nummer des Gelehrten. Während sie die Nummer wählte, die man ihr gegeben hatte, wog sie das Buch in der Hand und entdeckte das Veröffentlichungsjahr: 1954. Das lag über zwanzig Jahre zurück.
Es meldete sich die brüchige Stimme eines zweifellos sehr alten Mannes. Er sprach einen ähnlichen Dialekt wie Nevin, trotzdem war sie entsetzlich nervös und machte viele Fehler. Sie behauptete, sein Buch gelesen zu haben. Allerdings fehle darin eine Seite. Mit der Seitenzahl, die sie ihm gab, konnte er nichts anfangen, und er schien das Buch nicht bei der Hand zu haben, um
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