Falkengrund Nr. 32
Ihr Kunde war offenbar an dem neuen gruseligen Zugpferd beteiligt und konnte aus dem Vollen schöpfen, wenn es um Freikarten und dergleichen ging. Vermutlich hatte er wieder einen Auftrag für sie in petto und wollte das lockere Ambiente dazu nutzen, ihnen denselben schmackhaft zu machen.
Meyer, Freiling und Kostlek arbeiteten für einen bescheidenen Pharmazie-Betrieb namens Gutmann-Bleez, ansässig in einem Frankfurter Vorort. Sie stellten in der Hauptsache Beruhigungs- und Schlafmittel her. Ihr Marktanteil war überschaubar, aber die Branche erlaubte allen Unkenrufen zum Trotz stattliche Gewinne. Der Fortbestand der siebzig Arbeitsplätze konnte auf absehbare Zeit als gesichert gelten. Es gab drei Abteilungen, die von Meyer, Freiling und Kostlek geleitet wurden. Ihr Chef hatte ebenfalls eine Einladung in den Movie-Park bekommen, diese aber nicht wahrgenommen. Er war lieber mit ein paar Freunden zum Golfen gefahren.
Und da saßen sie nun vor ihren Bieren, hatten noch etwas mehr als eine Stunde bis zur Verabredung mit ihrem Gönner, und wussten nicht recht, was sie erwarten würde. Gestärkt verließen sie schließlich die Gaststätte, gingen geduckt in den Schatten der Achterbahnen und näherten sich dem Mansion of Fear, einem schmalen, hohen Bauwerk aus Holz und Steinen.
Dumpfe Schreie hallten aus dem Inneren, und das Gebäude war von einer zurückhaltenden Art, wie man es auf einem solchen Rummelplatz nicht für möglich gehalten hätte. Keine bunten Lichteffekte, kein Kunststoff, keine grellen Slogans an den Wänden, keine Lautsprecher, die „Hereinspaziert“ brüllten. Die Hausfront war grau und wirkte nicht auf alt gemacht, sondern … alt. Als hätte jemand eines der schaurigsten Häuser Europas aufgetrieben, behutsam in seine Einzelteile zerlegt und hier inmitten der modernen Attraktionen wieder zusammengesetzt. Die Fenster waren winzig, die Scheiben blind, am Holz und am Stein hatten Stürme und Unwetter genagt, jahrzehntelang.
Dieses stimmungsvolle Äußere verfehlte seine Wirkung auf das Publikum nicht. Eine Schlange von zwanzig Wartenden hatte sich gebildet und wurde nicht kürzer. Die Person am Einlass musste immer wieder streng auf die Aufschrift „Kein Zutritt unter 12 Jahren“ weisen, die in silbernen gotischen Buchstaben groß, aber unauffällig über dem Eingang prangte. Kinder, die sich auf das Haus gefreut hatten, quengelten und hüpften zornig auf und ab. Manche Erwachsenen sahen geradezu erleichtert aus, dass sie diesen Ort nicht betreten mussten.
„Es ist hübsch gemacht, das muss man den Leuten lassen“, bemerkte Meyer, und sein Blick rutschte Stück für Stück an der Fassade nach oben. Obwohl das Haus gerade einmal zehn Meter breit sein mochte, wuchs es vier Stockwerke in die Höhe. Ganz oben gab es ein schiefes, vorspringendes Dachfenster zwischen faulig wirkenden Schindeln. Ein Schauer durchfloss ihn bei dem Gedanken, hinter diesem Fenster könne irgendjemand oder irgendetwas lauern. Es sah aus wie ein zusammengekniffenes Auge.
„Noch vierzig Minuten“, sagte Freiling mürrisch. „Eine lange Zeit, um sich die Beine in den Bauch zu stehen und frustrierte Kinder anzustarren.“
„Die Leute, die rauskommen, scheinen aber nicht frustriert zu sein.“ Kostlek beobachtete eine Gruppe pickeliger Teenager, denen buchstäblich die Kinnladen herunterhingen. Sie waren blass, als wäre ihnen der Tod begegnet, und eines der Mädchen hatte Tränen in den Augen. Hinter ihnen kam ein einzelner Mann, der schallend lachte wie ein Bühnenschauspieler. Offenbar wollte er sich selbst mit aller Gewalt beweisen, dass er keine Angst gehabt hatte.
„Gehen wir rein“, schlug Kostlek vor.
„Bah“, machte Freiling. „Warum sollte ich mir ein paar Monster aus Pappmaché antun?“
Kostlek antwortete wie aus der Pistole geschossen: „Weil du über zwölf bist, Langeweile hast und eine Freikarte dazu.“ Wenn es draußen an der Fassade keine Ungeheuer aus Pappe gab, dann würden sie drinnen auch keine antreffen, da war er sicher. Er war neugierig geworden. Wie würde die Angst, die das Mansion of Fear versprach, erzeugt werden? Über optische Täuschungen? Gruselige Geräusche in dunklen Räumen? Er suchte nach einem Schild mit der Aufschrift „Lebende Akteure“, wie er es bei vergleichbaren Objekten schon gesehen hatte. Aber so etwas gab es hier nicht. Überhaupt erhielt man keinerlei Hinweis darauf, was einen im Inneren des Hauses erwarten würde.
„Ich komme mit“, sagte Meyer und begab
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