Falkengrund Nr. 32
zunächst in die falsche Richtung, korrigierte ihren Weg dann und erreichte Nevins Auto, bei dem noch der Zündschlüssel steckte. Als sie sich hineinsetzte, schien der Schleier zu zerreißen, der sie eingehüllt hatte.
„Warum … habt ihr das zugelassen?“, keuchte sie. „Warum habt ihr sie geopfert?“ Die Elben antworteten nicht. Sie waren nur noch grüne Schatten in ihren Augenwinkeln, und auch diese verblassten. Margarete drehte den Zündschlüssel und brauchte fünf Versuche, bis sie den Wagen angelassen hatte. Sie hatte noch nie am Steuer eines Autos gesessen.
Nach einer langen Irrfahrt kam sie in ein Dorf, doch es war nicht jenes, von dem aus sie abgefahren war. Sie erkundigte sich nach der nächsten Polizeistelle und erzählte ihre Geschichte einem alten Beamten, der sie mühsam in eine Schreibmaschine tippte.
„Wenn ich mir einen Rat erlauben darf, dear“, sagte er am Ende, „denken Sie nicht so viel darüber nach. Red Caps sind doch Fantasiegestalten, Fabelwesen, Sie wissen schon.“
„Aber es ist ein Mord geschehen! Zwei Morde!“
„Sicher. Man darf sich in solche Sachen nicht hineinsteigern“, belehrte er sie ruhig. „Davon bekommt man Angstzustände. Übrigens: Sie sprechen ausgezeichnet Englisch. Wo haben Sie das gelernt? Haben Sie schon die schottische Küche probiert?“
Nach einigen weiteren Versuchen gab sie es auf. Sie ließ sich zehn Kilometer zum nächsten Bahnhof bringen und fuhr mit dem Zug zurück nach London und von dort aus nach Deutschland. Ihre Sachen ließ sie in MacNorras Villa zurück. Viel Gepäck hatte sie ohnehin nicht gehabt, und sie hatte nicht den Mut, noch einmal in das Haus zurückzukehren.
Auf der Fahrt hatte sie viel Zeit, das Erlebte zu verarbeiten. Am meisten beschäftigte sie die Frage, weshalb die Elben die Frau nicht beschützt hatten, der sie so lange die Treue gehalten hatten.
Darauf gab es viele Antworten. Zum Beispiel das, was die alten Geschichten lehrten: Dass Elben anders dächten als Menschen. Unberechenbar seien. Mit unserer Logik nicht zu erfassen. Dass wir Menschen für sie nicht wichtiger seien als die Tiere für uns. Dass man sie zu nichts zwingen konnte. Dass sie wie die Natur selbst waren, weder gut noch böse, sondern eine unabhängige Macht, schwer zu beeinflussen.
Margarete aber fand ihre eigene Antwort. Und die hatte die Frau ihr selbst gegeben. „Die Elben werden dich schützen“, hatte sie gesagt. „Wenn du ihres Schutzes würdig bist. Wenn dein Herz rein ist.“
Rache entsprang nicht einem reinen Herzen.
Als Margarete nach Deutschland zurückkehrte, war sie äußerlich noch immer die Siebzehnjährige, als die sie knapp drei Wochen zuvor aufgebrochen war. Innerlich jedoch war sie gereift. Aus der Verwirrung, die das Erlebte bei ihr hinterlassen hatte, spross eine Art von Weisheit, die in ihrem Alter eher selten war.
Und sie begann sich zu interessieren. Für die Dinge, die verborgen waren. Die hinter dem Vorhang des Alltäglichen warteten.
ENDE DER EPISODE
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Nr. 62 -
Im Griff des Sandmanns
1
„Nun liebe Kinder, gebt fein acht, ich hab euch etwas mitgebracht.“
(aus dem Vorspann des West-Sandmännchens)
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Der Sandmann sagt das es verschidene Sandmänner gibt. Solche wie er die den Kindern Gutenacht-Geschichten erzählen. Und sie trösten wenn sie traurig sind. Aber es gibt auch andere Sandmänner. Die sind böse, sträuen den Kindern Sand in die Augen, wenn die nicht schlafen wollen. Das brennt und manche Kindern werden davon blint.
Unser Sandmann kommt jeden Abend. Und wo er einmal ein Paar Tage nicht gekommen ist hat keiner geschlafen. Die ganze Nacht hin durch nicht. Frau Siefert hat uns geschimpft und Folke hat gesagt, holen sie den Sandmann zurück. Dann schlafen wir wieder.
Frau Siefert hat den Sandmann zurück geholt.
Aber er ist nicht mehr so wie früher.
2
Dass die drei Männer im Berufsleben Schreibtisch an Schreibtisch arbeiteten, war schwer vorzustellen, wenn man sie sah.
Der schlanke, großgewachsene Meyer hatte silbergraues Haar und trug eine randlose Brille dazu. Er wirkte wie jemand, der in der Chefetage einer Bank zu Hause ist, trug eine Cartier-Uhr am Handgelenk und einen Joop-Duft am ganzen Leib. Wenn er über Berufliches sprach, klang er ein wenig blasiert, aber er konnte aus sich heraus gehen und ein kleiner Junge werden, wenn es um Bergsteigen und Wandern in der freien Natur ging.
Freiling war ein gedrungener Phlegmatiker, dessen schwarzes Haar sich am Hinterkopf zu einer
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