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Falkengrund Nr. 33

Falkengrund Nr. 33

Titel: Falkengrund Nr. 33 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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operieren könnte. Keine Maschinen, die einer von uns Menschen je zu bedienen vermöchte.“
    Enenes Mund wurde trocken. „Die Schatten … haben Experimente mit Ihnen angestellt?“ Unwillkürlich fühlte er sich an die Geschichten von Außerirdischen erinnert, die Menschen in ihre Raumschiffe oder unterirdischen Geheimbasen entführten, untersuchten, sezierten … Solche Erzählungen hörte man häufig in Nordamerika oder Europa. In Afrika sprach man nicht von Außerirdischen. Da waren es Hexer, Geister und böse Ungeheuer, die sich ihre menschlichen Opfer schnappten. Auch Enene dachte eher in diesen Bahnen. Aber die Maschinen, von denen die Rede war, machten ihn stutzig. Maschinen passten nicht zu Geistern …
    „Experimente“, wiederholte Kula. „Ein Wort. Aber kein Wort irgendeiner Sprache ist mächtig genug, um zu fassen, was mit uns geschehen ist.“ Er blickte ins Leere.
    „Bitte“, drängte Enene. „Versuchen Sie es doch zu beschreiben! Ich bin nach Afrika gekommen, um darüber zu hören.“
    Kula fixierte lange Zeit einen Punkt auf dem Boden. Dann hob er abrupt den Kopf und wies auf den Baum, dessen Zweige sich über sie streckten. „Das ist ein Baum, nicht wahr? Er hat Wurzeln, einen Stamm, Äste. Er hat eine Rinde, und er treibt grüne Sprosse. Sie können ihn fällen, zersägen, und dann schnitzen Sie daraus eine Figur. Was haben Sie dann? Es gibt keine Wurzeln mehr, keine Äste, keine Rinde, keine grünen Sprosse. Es ist immer noch dasselbe Material. Holz. Aber es ist kein Baum mehr. Es ist etwas anderes, geformt nach dem Willen eines anderen. Nun stellen Sie sich vor, es gibt Wesen, die mit Menschen das tun, was Menschen mit Bäumen tun. Wenn sie diesen Gedanken lange im Kopf behalten, ihn von allen Seiten betrachten und nachts einen Traum darüber haben, dann – und erst dann – haben Sie eine Ahnung davon, was mit uns geschehen ist. Wir sind Knochen und Fleisch und Blut und Haar. Aber wir sind keine Menschen mehr. Das ist es, was wir in unseren Tänzen ausdrücken.“
    Enene besah sich den Baum, dann die Leute, die ihn sitzend und stehend umringten. „Aber Sie … sind alle noch gewöhnliche Menschen.“
    „Glauben Sie? Und was ist mit der Wunde auf Ihrer Brust?“
    „Rupe“, hauchte er. Die Frau im Käfig, die rohes Fleisch aß wie ein Tier.
    „Rupe hatte Glück, weil wir sie fangen und einsperren konnten. Andere waren schlimmer als sie, gefährlicher. Wir mussten sie töten, weil sie ebenfalls töteten. Bestimmt haben Sie nicht alle Gesichter aus dem Film heute wiedergefunden.“ Kulas Miene wurde bitter. „Seien Sie froh, dass Sie nie eine dieser Bestien zu Gesicht bekommen haben.“
    Schlagartig fiel Enene die Frau ein, der er in dem kleinen Kinoraum in Lagos begegnet war. Aus ihrem Mund waren Tentakel geschossen, als hätte sich ihr Magen in ein vielarmiges Ungeheuer verwandelt. Er hatte zugesehen, wie sie tötete und wie sie getötet wurde. Mit belegter Stimme berichtete er dem Regisseur von der schaurigsten Erfahrung, die er in seinem Leben gemacht hatte.
    „Das klingt nach einem bösen Fiebertraum … oder nach einem von uns. Ich versichere Ihnen – manche von uns sind wirklich harmlos, die anderen … scheinen nur so.“
    Die Reaktionen der Menschen auf diese Worte fielen unterschiedlich aus. Manche grinsten wie peinlich berührt, die Gesichter anderer verkrampften sich, und ein paar schienen nach Kräften mit sich zu kämpfen, um eine Panik zu unterdrücken.
    Für einige Minuten herrschte Schweigen. Schließlich fragte Enene: „Haben Sie eine Idee, was diese Wesen sind, die so etwas tun?“
    Die Antwort kam schneller, als er erwartet hatte. „Menschen haben Schatten. Aber auch Maschinen werfen Schatten. Dort, wo sich die Schatten der Maschinen mit denen der Menschen überdecken, entstehen diese Monster.“
    Enene blinzelte Kula verstört an.
    Dieser lächelte. „Das ist unsere Mythologie. Wir brauchen eine eigene, weil die existierenden uns nicht weiterhelfen.“
    Enene spürte nun deutlich den intellektuellen Hintergrund des Mannes. Er sprach wie jemand, der viel Wissen hatte. Zu leicht konnte man in den Irrtum verfallen, es mit einfachen Leuten vom Land zu tun zu haben. Die primitiven Verhältnisse, in denen sie lebten, legten die Vermutung nahe. Doch sie hatten sich diese Lebensumstände selbst ausgesucht. Es gab keine Maschinen hier, keine Fabriken – und vermutlich kam es ihnen genau darauf an.
    „Wir sind dabei, eine eigene Kultur aufzubauen“, erläuterte

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