Falkengrund Nr. 33
Dorf geirrt haben. Eine falsche Abzweigung irgendwo, und er mochte den Weg in eine andere Siedlung eingeschlagen haben, an einen Ort, wo sich Kranke, Aussätzige zurückzogen. Oder verbannt wurden. Solche Orte gab es tatsächlich. Bislang hatte er hier keine Hinweise auf den Film gefunden.
„Sind Sie Reporter?“, fragte der junge Mann. „Wir geben keine Interviews.“ Inzwischen hatten zehn oder zwölf Leute einen Halbkreis um die beiden Fremden gebildet. Ihre Blicke schwankten zwischen schlaftrunken und feindselig.
„Ich bin ein Schamane“, sagte Enene. Ein angehender Schamane, wäre näher an der Wahrheit gewesen. Er praktizierte nicht, und er wusste noch sehr wenig. Er hatte zu viel Zeit in Deutschland verbracht – vergeudet, wie es ihm jetzt schien. Wäre er in Afrika geblieben, hätte er heute ein großer Zauberer sein können.
„Weswegen kommen Sie? Wollen Sie uns helfen? Das haben schon einige versucht. Ein Missionar, ein Arzt, ein Psychologe. Das einzige, was uns geholfen hat, war der Film.“ Also doch! Enene atmete auf und fühlte gleichzeitig eine neue Spannung in sich entstehen. Er hatte sich nicht im Dorf geirrt.
„Was bedeutet dieser Film?“, wollte er wissen. Nachdem sie ihn gemustert hatten, nahmen sich die Dorfleute nun Bruder Quirinius vor, umringten ihn, starrten auf sein verdorrtes Gesicht und zupften an seiner Kutte wie Kinder.
Mehr als die Hälfte der Dorfleute waren Frauen. Eine davon, großgewachsen und mit einem ausdrucksvollen, reifen Gesicht, trat vor. „Der Film gab uns eine Sprache. Was wir erlebten, konnten wir nicht in Worte fassen. Darüber hätten wir fast den Verstand verloren. Sobald wir es aussprachen, klang es wie eine Lüge, und wir konnten uns selbst nicht mehr glauben. Aber wir entdeckten eine neue Sprache. Die Sprache der Bilder und der Musik. Damit konnten wir endlich reden. Der Film ist unser Mund.“
Enene erkannte die Frau. Sie war in den meisten Einstellungen des Films zu sehen gewesen. Auch einige der anderen Gesichter kamen ihm jetzt bekannt vor. Da er den jungen Mann mit der breiten Nase nicht im Film gesehen zu haben glaubte, fragte er: „Sie sind der Regisseur?“
Der Angesprochene nickte. „Wir dachten nicht, dass der Film ein solcher Erfolg werden würde.“
„Sie haben damit einen Nerv getroffen“, meinte Enene.
„Obwohl nur wenige unsere Erlebnisse teilen.“
„Und was genau haben Sie erlebt?“
Der Mann wandte den Kopf zur Seite und schwieg.
„Es sind Schatten, die sich ruckartig bewegen, nicht wahr? Sie tragen Geweihe auf den übergroßen Köpfen“, versuchte Enene nachzuhelfen, indem er wieder einmal die Merkmale auflistete, von denen Melanie und Georg berichtet hatten. „Freunde von mir haben sie in Europa gesehen. Vielleicht tauchten sie überall auf der Welt auf. Es könnte Tausende geben, die sie gesehen haben, aber nicht darüber zu sprechen wagen.“
„Nicht darüber sprechen können “, verbesserte der Mann.
„Was meinen Sie damit?“
„Es ist unwirklich, fremd. Man wirft einen Blick in eine andere Welt. Und wir haben sie nicht einfach nur gesehen …“
„Sprechen Sie weiter!“ Während Enene dem Mann die Informationen zu entlocken versuchte, stand Bruder Quirinius scheinbar unbeteiligt daneben. Bestimmt saugte er trotzdem jedes Wort der Unterhaltung in sich auf. Immer mehr Menschen kamen aus den Hütten, bis es drei, vier Dutzend waren. Ein paar einzelne flache Wolken zogen über den tiefblauen Himmel, schnell, als wäre jemand hinter ihnen her. Der Saharawind Harmattan hatte in den letzten Tagen wieder an Macht gewonnen. Rund um das Dorf entwurzelte er kleine, dornige Sträucher und trieb sie wie Spielzeuge vor sich her. An den Hütten klapperte und quietschte es, und die Behausungen, in denen einst die Menschen einem Virus erlegen waren, neigten sich gefährlich zur Seite.
Der Regisseur des Films „Blacker than Black“ forderte die beiden Fremden auf, ihm zum Versammlungsplatz zu folgen. Es war die Stelle, an der sich Enene zuvor einige Minuten in seine Gedanken versenkt hatte. Weitere Sitzklötze wurden herbeigeschleppt.
„Mein Name ist Kula“, erklärte der Mann. „Wir sind Opfer dieser Schatten. Jeder einzelne von uns befand sich in ihrer Gewalt.“
Enenes Augen weiteten sich.
„Wir waren eins mit ihren Maschinen, lagen auf ihren Operationstischen, haben aus ihren Reagenzgläsern getrunken. Natürlich sind es keine Reagenzgläser, wie wir sie kennen. Keine Tische, auf denen ein menschlicher Arzt
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