Falkengrund Nr. 34
der Frontalansicht waren der breite Mund und die weit auseinanderstehenden Augen als wichtigste Merkmale gut zu erkennen. Das zweite Werk fiel noch ungewöhnlicher aus, denn darauf konnte man einen Fisch sehen, der als Muster das Gesicht desselben Mannes trug.
„Ein begabter Künstler“, meinte Sir Darren vorsichtig und gab die Blätter zurück.
Carnacki nickte. „Das Glück wollte es, dass die Natur den Herrn, der den Spuk erlebte, mit einem Talent für so etwas ausgestattet hat. Mr. Trent Holburn konnte nicht nur sehr genau beschreiben, was er gesehen hatte, er konnte es sogar skizzieren.“
„Wir haben es also mit einem Geist zu tun, der auf dem Wasser steht, und mit Fischen, die sein Gesicht tragen. Außerordentlich. Gibt es noch andere Menschen, die Zeugen dieser … phantastischen Ereignisse wurden?“
„Eine Frau, die mit Holburn auf dem See unterwegs war. Ihr Name ist Lauren Draper. Sie wollte nicht mit mir sprechen.“
„Weshalb nicht?“
„Laut Holburns Aussage verhielt sie sich in dieser nächtlichen Stunde … hm … nicht ganz tugendhaft.“
Sir Darren verstand. Ein Pärchen nachts allein auf dem See. Gewisse delikate Dinge geschahen, über die die Frau nicht reden wollte, während es der Mann geradezu genoss, damit zu prahlen. „Konnten Sie herausfinden, wen die Zeichnungen darstellen?“
„Das war kein Problem. Der Mann hieß Abernathy und stammt aus der nahegelegenen Ortschaft Easton Forest. Er starb vor zwei Jahren in diesem See.“
„Ein Verbrechen?“
„Nicht direkt.“ Carnacki schien die grüne Landschaft zu betrachten. „Es war Selbstmord. Er ging zusammen mit seiner Liebsten ins Wasser. Offenbar war es ihre Idee gewesen. Abernathy neigte zu Depressionen – wahrscheinlich brauchte es nicht viel, um ihn zu überreden. Die Frau überlebte den Suizidversuch, der Mann starb. Ihr Name ist Nelly Sawman.“
Sir Darren massierte sich die Knie. Die Sache wurde interessant. „Lebt sie noch in Easton Forest?“
„Sie ist spurlos verschwunden. Wenig überraschend, wenn Sie mich fragen. Ich schätze, die Familie von Abernathy wünschte ihr von Herzen, sie hätte den armen Kerl wenigstens in den Tod begleitet. Die Gegend um den See war für sie gewiss kein angenehmes Pflaster mehr.“
Sir Darren dachte nach. „Und Abernathy … spukt er schon länger?“
„Davon ist nichts bekannt. Allerdings vermeiden es die Leute von Easton Forest seit dem Todesfall, sich dem See nach Einbruch der Dunkelheit zu nähern.“
„Nehmen wir an, der Geist von Abernathy hat sich nur dieses eine Mal gezeigt, diesem jungen Pärchen. Warum hat er das getan?“
„Hier betreten wir das Reich der Spekulation“, erklärte Carnacki. „Holburn sagte aus, der Geist sei ihnen über das Wasser gefolgt und hätte ‚No!’ gerufen, mehrmals.“
„Als wollte der Spuk die beiden von etwas abhalten … Versuchte er zu verhindern, dass sie sich verliebten und ein ähnliches Schicksal erlitten wie er?“
„Das scheint naheliegend. Allerdings glaube ich nicht, dass eine solche Gefahr bestand. Mr. Holburn sah in diesem nächtlichen Stelldichein eher einen Zeitvertreib, wenn Sie verstehen, was ich meine, Sir.“
„Vielleicht ist die Geschichte viel komplizierter“, gab Sir Darren zu bedenken.
„Ich bin fast sicher, dass sie das ist“, meinte Carnacki. „Holburn beschrieb nämlich noch etwas Ungewöhnliches. Ehe die beiden ablegten, sah Miss Draper den Geist von Abernathy draußen auf dem See. Obwohl sie zunächst zu Tode erschrocken wirkte und durch den Schock beinahe das Bewusstsein verlor, drängte sie ihren Begleiter kurz darauf dazu, hinauszufahren. Sie verhielt sich dann ungewöhnlich beherzt und … lasziv.“
„Eine der sogenannten starken Frauen “, murmelte Sir Darren mehr im Selbstgespräch. „Moderne Zeiten brechen an. Ich kann die Roaring Twenties kaum erwarten …“
„Ich bin mir nicht ganz sicher, was Sie damit ausdrücken wollen. Meine persönliche Theorie geht dahin, dass zum Zeitpunkt der Fast-Ohnmacht etwas von Miss Draper Besitz ergriff. Sie wurde quasi ein Teil des ganzen Spuk-Szenarios. Mit etwas Glück werden uns die elektrischen Messungen Aufschluss darüber geben, in welcher Form sich die spektralen Felder im und über den See ausbreiten.“
„Sie denken wohl, Sie können alles messen“, meinte Sir Darren säuerlich. Und dachte bei sich: Warum messen Sie Ihrer Köchin dann nicht das Salz ab?
Die Bemerkung reichte schon, um Carnacki für den Rest der Fahrt zu verstimmen.
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