Falkengrund Nr. 34
London. Wie sind Sie ausgerechnet auf Carnacki gestoßen? Er ist keiner dieser traurigen Männer, die Sie beschreiben. Und es gibt keinen See in der Nähe.“
Noreena lachte. Es war ein schwieriges Lachen. „Keine fünfzig Yards von hier fließt die Themse vorbei. Wasser ist Wasser, nicht wahr? Und täuschen Sie sich nicht, was Mr. Carnacki angeht. Man mag es ihm nicht ansehen, aber auch er hat seine Momente. Ich traf ihn in einer dieser Bars, stockbetrunken und tief im Sumpf dessen, was man als Lebensüberdruss bezeichnen mag. Glauben Sie, ein Dasein voller Geistererscheinungen, alter okkulter Manuskripte und abgrundböser kosmischer Kräfte macht eine Frohnatur aus einem Menschen? Was ist mit Ihnen, Sir? Sie haben ebenfalls einschlägige Erfahrungen. Sind sie glücklich mit all den Toten, die nicht sterben können? Denken Sie nicht auch oft selbst an den Tod? Ich bin auch ein wenig wie diese Geister, mit denen Sie und Mr. Carnacki ständig zu tun haben. Sie sind tot, aber sie können nicht loslassen. Ich dagegen will loslassen und kann nicht sterben. Eigentlich müssten Sie mich verstehen.“
„Ist Carnacki tot?“
„Er ist weggegangen. Ich hatte gehofft, dass es mit ihm anders werden würde. Vielleicht wollte ich gar nicht, dass er mit mir in den Tod geht. Vielleicht wollte ich nur, dass er mich in eines dieser Elektrischen Pentakel setzt, einen Kreidekreis um mich zieht und mich abschirmt von all den Kräften, die mein Schicksal bestimmen. Ich weiß es selbst nicht.“
Konnte er ihr glauben? „Er hat Ihnen nicht gesagt, wohin er geht?“
Sie schüttelte den Kopf, betrachtete ihre Zigarre. „Er hat einige seiner wichtigsten Bücher und eigene Aufschriebe mitgenommen. Das Sigsand und all dieses Zeug.“
„Und … werden Sie hier auf ihn warten?“
„Wenn Sie mir nicht die Polizei auf den Hals hetzen …“
Sir Darren seufzte tief. Ihre Geschichte klang glaubhaft. Er hatte selbst gesehen, wie ihre Rettung im Loch Gacht vonstattengegangen war. Und auch der Geist von Lake Easton, Abernathy, hatte niemals Rache an ihr üben wollen – er hatte lediglich versucht, Carnacki die Augen zu öffnen.
Aber da nicht Carnacki, sondern Sir Darren die anderen Seen besucht hatte, wusste der Geisterfinder vermutlich bis heute nichts von den Zusammenhängen. Alles sprach dafür, dass ihm auf dem Lake Easton etwas völlig anderes begegnet war, etwas, das vielleicht keinen direkten Zusammenhang zu diesem Fall hatte, in dessen Mittelpunkt seine unscheinbare kleine Haushälterin stand.
Sir Darren rief sich Trent Holburns Bericht ins Gedächtnis. Der Schatten, der aus dem Himmel fiel, möglicherweise angezogen von dem Elektrischen Pentakel. Holburn, der als Hobbymaler über eine außergewöhnliche Beobachtungsgabe verfügte, hatte sogar das kleine Kästchen erwähnt, welches sich in Carnackis Hosentasche abgezeichnet hatte, als sie ihn klatschnass und besinnungslos aus dem See zogen. Natürlich hätte Sir Darren gerne gewusst, was sich in dem Kästchen befand. Ob Carnacki es aus dem See mitgebracht oder aber vorher schon besessen hatte.
Würde er es je erfahren? Die Chancen standen schlecht. Er hatte keinen Anhaltspunkt für den Aufenthaltsort des Geisterfinders.
Er verabschiedete sich von Noreena Stryker und gab ihr sein Ehrenwort, dass er niemandem (außer Carnacki, falls er ihn doch noch aufstöberte) von den Zusammenhängen erzählen würde, die er enthüllt hatte.
„Kommen Sie einmal wieder vorbei“, sagte Noreena zum Abschied. „Wenn Sie Appetit auf guten Eintopf haben.“
Sir Darren verzog das Gesicht und erwiderte nichts.
In den nächsten Jahren behielt er das Haus Nr. 472 an der Uferstraße im Auge, observierte es sogar, wenn er Zeit hatte, tagelang. Von Carnacki gab es keine Spur. Noreena hatte das Haus bereits nach wenigen Monaten verlassen.
7
Februar 2005
Nachdem Sir Darren jahrzehntelang nicht mehr an den Geisterfinder gedacht hatte, hatte der Vorfall mit den Neukelten und der seelensaugenden Maschinerie (siehe FALKENGRUND Episode 43) die Erinnerung an Carnacki erneut in ihm geweckt. Er tat sich ein wenig um, ob es Hinweise darauf gab, wohin der Mann damals verschwunden war bzw. ob man je wieder etwas von ihm gehört hatte.
Doch es existierten keine Spuren. Thomas Carnacki war das, was er eigentlich immer gewesen war, eine Figur in einigen Kurzgeschichten eines Autors namens Hodgson. Zwar stieß der Dozent auf zwei Leute, die behaupteten, Carnacki tatsächlich begegnet zu sein, doch die beiden
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