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Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 9 Der Pfad des Schmerzes

Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 9 Der Pfad des Schmerzes

Titel: Falkengrund, Schule des Okkulten - Episode 9 Der Pfad des Schmerzes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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muss?“
    Das Mädchen nickte. „Da unten links, dann noch mal links.“
    „Ist er weit weg?“
    Sie zuckte die Schultern. Offenbar hatte sie kein Gefühl für die Entfernung.
    Sir Darren umklammerte das Lenkrad. Seine Züge waren wie eingefroren. Ihre Reise ins Unglück hatte begonnen.

7
    Es war dunkel geworden.
    Seit fünf Stunden waren sie unterwegs. Längst hatten sie Baden-Württemberg verlassen und durchquerten Bayern. Sie kamen nur langsam vorwärts, da Anna kleine Straßen zu bevorzugen schien.
    Was es war, das sie die Autobahnen und Bundesstraßen meiden ließ, wusste er nicht. Es war beinahe, als versuche sie ihre Ankunft hinauszuzögern. Vielleicht, weil etwas in ihr sich davor fürchtete, ihren Onkel zu treffen. Vielleicht gab es aber einen ganz anderen Grund. Sie starrte fasziniert zum Fenster hinaus und sog die wechselnden Eindrücke begierig auf. Sie wollte diese Welt ansehen, wollte viel Zeit darin verbringen.
    Sir Darren knurrte der Magen, denn er hatte seit mehr als acht Stunden nichts mehr gegessen. Er wusste, dass Anna nicht hungrig werden würde, also durfte er nicht anhalten und sich etwas kaufen. Außerdem war das Risiko zu groß, dass jemand beobachtete, wie ihre Hände durch feste Objekte hindurchgingen. Anna ließ es sich nicht nehmen, ab und zu Autofahrern und Passanten zuzuwinken. Manche erwiderten ihren Gruß. Keiner von ihnen würde je erfahren, dass er einem Gespenst zugewinkt hatte.
    Einmal hatte er tanken müssen. Er hatte Anna befohlen, im Wagen zu bleiben, angeblich, weil es eine gefährliche Gegend sei. Sie hatte brav gehorcht, doch als er wieder zu ihr in den Wagen stieg, war er schweißgebadet vor Angst.
    „Wenn ich groß bin, möchte ich auch einmal Lehrer werden, wie Sie“, sagte Anna. Inzwischen war es nach 23 Uhr, und sie sprach nicht mehr davon, nach Hause zu wollen. Die Fahrt durch die unbekannte Gegend schien sie auszufüllen. „Ich mag nämlich auch Bücher.“
    Sir Darren packte das Lenkrad fester. Wieder einmal fiel ihm keine Erwiderung ein. Sie würde niemals groß werden. Sie würde immer zwölf Jahre alt sein. Und tot.
    „Sind Sie verheiratet, Herr Edgar?“, wollte Anna wissen. „Haben Sie Kinder?“
    Jetzt musste er antworten. „Weder noch.“ Er kniff die Augen zusammen, wischte sich eine Träne aus dem linken Auge und hoffte, dass sie es nicht bemerkte.
    „Keine Kinder? Wie Onkel Uli. Aber verheiratet ist er. Sie können nur keine Kinder bekommen, Tante Jasmin und er.“ Eine Minute lang schwieg sie und schien ihren Gedanken nachzuhängen. „Ich möchte mindestens drei Kinder haben. Wenn ich kann .“
    Sir Darren wurde übel. Vielleicht lag es an seinem leeren Magen. Aber nicht nur. Er vermochte sich kaum mehr auf die Straße zu konzentrieren, die dunkel schimmernd vor ihm zwischen den orange aufleuchtenden Begrenzungspfosten lag. Wie ein schwarzer Teppich lag sie da. Wenn man einen hohen Gast empfing, legte man rote Teppiche aus. Schwarze Teppiche waren wohl für Tote gedacht. Für Tote und Sterbende. In diesen Stunden rechnete er damit, dass er sterben würde, nicht irgendwann in ferner Zukunft, sondern heute Nacht noch. Auf welche Art, das wusste er nicht. Der Gedanke ließ ihn erschaudern, machte ihn aber auch neugierig.
    Er kannte das Jenseits, wusste, dass es existierte, und dass jede Seele dort ein Zuhause fand. Es hatte nichts mit Himmel oder Hölle zu tun, nichts damit, ob man ein guter oder schlechter Mensch gewesen war, ob man daran glaubte oder nicht. Das Jenseits war kein Ort des Trostes und kein Ort der Strafe. Es war einfach das nächste Stadium. Trotzdem hatten die Menschen Angst davor – Sir Darren bildete keine Ausnahme. Vor allem, seit er in den letzten Tagen so rücksichtslos mit dem Jenseits umgesprungen war.
    „Wo ist Onkel Uli?“, fragte der Dozent. Er wünschte sich, dass Anna sich einfach auflösen würde, dass sie den Halt in dieser Welt verlor und dieser Albtraum ein Ende hatte. Er würde irgendeines dieser schrecklichen Hamburgerrestaurants suchen, das noch geöffnet hatte, sich mit Mics oder Macs – oder wie immer sie heißen mochten – voll stopfen, bis sein Magen zu knurren aufhörte. Er würde sogar Kaffee trinken oder irgendeine süße Limonade. Er würde mit ungewaschenen betrunkenen Bauarbeitern Gespräche über Politik oder Fußball führen oder aufgetakelten, nach billigem Parfum und Zigarettenqualm stinkenden Blumen der Nacht Komplimente über ihre Frisur machen. Er würde seine Persönlichkeit, seine Ehre und

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