Falkenhof 01 - Im Zeichen des Falken
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»Na ja …«
»Sadik versteht sich besser auf die Heilkunst als jeder Arzt hier weit und breit«, versicherte sein Onkel. »Du musst mir und ihm vertrauen.«
Tobias machte keine sehr überzeugte Miene.
»Ich weiß, was in deinem Kopf herumgeistert. Europa, das Abendland – die Wiege der Kultur, wo die Wissenschaften Triumphe feiern«, fuhr Heinrich Heller mit leichtem Spott fort. »Das hat man uns und auch dir eingebläut. Aber dem ist nicht so, mein Junge. Das Morgenland hat schon eine hohe Kultur gehabt, als Europa noch ein Land der Barbarei war, und während im dunkelsten Mittelalter bei uns der Aberglaube mit seinen Teufelsaustreibungen und Hexenverbrennungen und all seinen anderen schrecklichen Begleiterscheinungen die Menschen beherrschte und ins Elend drückte, da leuchtete im Morgenland schon lange der helle Stern der Wissenschaft! Jahrhunderte waren und sind uns diese Kulturen teilweise an Wissen voraus! In der Astronomie genauso wie in der Medizin!«
»So? Davon ist bei Schwitzing aber nie die Rede gewesen«, wandte Tobias ein.
Es klopfte. Lisette brachte die Brote und den Grog und zog sich schnell wieder zurück.
»Ich halte große Stücke auf den guten Schwitzing und er hat dir zweifellos eine überaus solide Bildung angedeihen lassen. Dass du von diesen Dingen aber nichts von ihm erfahren hast, kann ihm nicht als Verschulden angekreidet werden«, griff sein Onkel den Faden auf, als sie wieder allein waren. »Es ist nicht mangelnder Wille oder gar vorsätzliches Unterschlagen bei ihm, sondern nur mangelndes Wissen … nun, vielleicht auch mangelndes Interesse an einer gerechteren Bewertung der kulturellen Höchstleistungen dieser so genannten ›heidnischen Völker‹.«
»Und was sind das für Höchstleistungen?«, fragte Tobias mit vollem Mund.
»Warte! Ich werde dir ein Beispiel geben!« Heinrich Heller setzte seinen Grog ab, erhob sich aus dem Sessel vor dem Kamin und trat an eines der Bücherregale. Nach kurzem Suchen zog er ein in Schweinsleder gebundenes, ziemlich ramponiertes Buch hervor, kehrte zu Tobias ans Feuer zurück, rückte seinen Zwicker zurecht,
blätterte kurz und sagte dann: »Ah, da haben wir ja schon eine nette Stelle! Der Brief eines Kranken an seinen Vater. Hör nur gut zu!«
Er begann vorzulesen.
»›Lieber Vater! Du fragst, ob du mir Geld schicken sollst. Das ist nicht nötig. Wenn ich entlassen werde, erhalte ich vom Krankenhaus neue Kleidung und auch fünf Goldstücke, sodass ich nicht gleich wieder arbeiten muss. Du brauchst von deiner Herde also kein Tier zu verkaufen. Wenn du mich aber noch hier finden willst, solltest du dich mit deinem Kommen beeilen. Ich liege auf der orthopädischen Station neben dem Operationssaal. Wenn du durch das Hauptportal kommst, gehst du an der südlichen Außenhalle vorbei. Das ist die Poliklinik, wohin sie mich nach meinem Sturz gebracht haben. Dort wird jeder Kranke von den Assistenzärzten und Studenten untersucht, und wer nicht unbedingt Krankenhausbehandlung braucht, erhält dort sein Rezept, das er sich nebenan in der Krankenhausapotheke anfertigen lassen kann. Ich wurde nach der Untersuchung dort registriert und dem Oberarzt vorgeführt, ein Wärter trug mich in die Männerstation, bereitete mir ein Bad und steckte mich in saubere Krankenhauskleidung.
Aber du lässt linker Hand auch die Bibliothek und den großen Hörsaal, wo der Chefarzt die Studenten unterrichtet, hinter dir. Der Gang links vom Hof führt zur Frauenstation. Du musst dich rechts halten … Wenn du Musik oder Gesang aus einem Raum vernimmst, sieh ruhig mal hinein. Vielleicht bin ich dann schon in dem Tagesraum für die Genesenden, wo wir Musik und Bücher zu unserer Unterhaltung haben.
Als der Chefarzt heute Morgen mit seinen Assistenten und Pflegern auf Visite war und mich untersuchte, diktierte er dem Stationsarzt etwas, was ich nicht verstand. Aber hinterher sagte er mir, dass ich morgen aufstehen darf und bald entlassen werde. Dabei will ich gar nicht so schnell fort von hier. Alles ist so hell und sauber. Die Betten sind weich, die Laken aus weißem Damast und die Decken flaumig und fein wie Samt. In jedem Zimmer ist fließendes Wasser, und jedes wird geheizt, wenn die kalten Nächte kommen. Fast täglich gibt es Geflügel oder Hammelbraten für den, dessen Magen es verträgt. Mein Nachbar hat sich schon eine ganze Woche lang kränker gestellt, als er es war, nur um die zarten Hühnerbrüstchen noch ein paar Tage länger genießen zu
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