Falkenhof 02 - Auf der Spur des Falken
vor den Häusern mehr als kniehoch aus dem Pflaster ragten und verhindern sollten, dass die Räder von Kutschen und Fuhrwerken die Grundmauern der Gebäude beschädigten.
Tobias fasste Zutrauen zur behaupteten Ortskenntnis dieses überaus merkwürdigen Burschen, dessen Verhalten ihm vorhin doch sehr absonderlich erschienen war. Ein Verdacht regte sich in ihm, doch da es sinnlos war, ihn auszusprechen, schob er ihn beiseite. Wichtig war jetzt einzig und allein, dass sie auf dem schnellsten Weg zum Haus von Monsieur Roland gelangten.
»Wie heißt du?«, wollte er wissen.
»Gaspard – Gaspard Vallon. Und wie ich gehört habe, heißt du Tobias, nicht wahr?«
»Richtig, und das sind Jana und Sadik, die besten und zuverlässigsten Freunde, die man sich nur wünschen kann«, erklärte er stolz.
Jana bedankte sich dafür mit einem strahlenden Lächeln, während Sadik zu seinem Messer griff und Tobias die Melone aus dem Schoß nahm.
Der Saft tropfte nur so von den halbmondförmigen Scheiben, die Sadik aus der Melone schnitt. Tobias nahm die erste, die sein arabischer Freund ihm reichte, beugte sich vor und hielt sie Gaspard hin.
»Möchtest du auch eine?«
Gaspard zögerte.
»Nun nimm schon!«, forderte Jana ihn auf. »Allein schaffen wir dieses dicke Monstrum sowieso nicht. Und Sadik hat mal den klugen Spruch getan, dass man nur vom Zerschneiden einer Melone noch keinen kühlen Mund kriegt.«
Gaspard lachte. »Den muss ich mir merken! Danke!« Er schlug den weiten Umhang zurück, unter dem sein linker Arm bis dahin verborgen war.
Tobias erschrak unwillkürlich, als die linke Hand des Franzosen zu sehen war. Auch Jana und Sadik blickten mit Betroffenheit auf die Hand, die gar keine Hand aus Fleisch und Blut war, sondern eine plumpe Holzprothese, aus der ein gekrümmter Eisenhaken und eine Art Gabel mit zwei Zinken herausragten.
Es gab einen dumpfen Laut, als Gaspard den Eisenhaken seiner Prothese hinter den hochstehenden Rand des Brettes klemmte, das den Beinschutz des Kutschbockes nach vorn hin abschloss. Erst jetzt ließ seine rechte Hand die Eisenstange los und nahm Tobias die Melonenscheibe ab.
Tief gruben sich seine Zähne in das rotblaue Fruchtfleisch, dass ihm der Saft an den Mundwinkeln hinunterlief.
»Wirklich gut!«, lobte er mit vollem Mund. »Da oben wieder links! Das ist schon die Rue Saint Denis. Bald könnt ihr die Seine sehen!« Und als würde er erst jetzt ihre betroffenen Mienen bemerken, was ganz sicherlich nicht der Fall war, fügte er noch fast beiläufig hinzu: »Man kann ganz ordentlich damit leben, wenn man sich erst mal an das Ding gewöhnt hat!« Dabei deutete er auf seine Prothese.
Tobias wusste nicht, was er sagen sollte. Er verstand jetzt, warum Gaspard auch bei dieser Hitze einen Umhang trug: Er verdeckte den Arm mit der Handprothese.
Es war Sadik, der das betroffene Schweigen brach. Ruhig fragte er: »Wie ist das passiert?«
»Ein Unfall«, antwortete Gaspard schulterzuckend, als gäbe es darüber nicht mehr zu sagen, spuckte Kerne auf die Straße und biss erneut in die Melone.
Tobias hätte gern mehr über diesen Unfall erfahren, brachte es jedoch nicht über sich, nach Einzelheiten zu fragen. So nahm er die Scheibe, die Sadik ihm reichte, und aß schweigend. Die Melone war herrlich erfrischend, doch so ganz unbeschwert vermochte er sich diesem Genuss doch nicht hinzugeben. Denn er versuchte sich vorzustellen, wie schwer es Gaspards Behauptung zum Trotz wohl sein musste, mit einem fehlenden Auge und einer solchen Prothese leben zu müssen. So jung und schon ein Krüppel!
Sie gelangten wenig später zur Seine und es gab dort so vieles zu sehen, dass Tobias über diese Ablenkung regelrecht erleichtert war.
Gaspard wies auf ein großes, mehrstöckiges Gebäude zu ihrer Linken, das sich fast über die Länge eines ganzen Häuserblockes erstreckte.
»Das da drüben ist das Hotel de Ville, der Sitz des Stadtpräfekten Comte Chabrol de Volvic«, erklärte er. »Und die vielen Leute, die dort auf dem Place de Greve herumstehen, sind Tagelöhner, die auf Arbeit hoffen. Morgens stehen sie da zu Hunderten.«
Ein lärmendes Treiben herrschte rund um den Platz, der jedoch nicht allein den Arbeitssuchenden vorbehalten war. Zahlreiche Händler hatten hier ihre Stände aufgebaut und boten alles Mögliche zum Kauf an, besonders aber gebrauchte Kleider aller Art, die auf offener Straße anprobiert wurden. Fliegende Händler, die ihre Waren in Bauchläden oder Weidenkörben mit sich trugen,
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