Falkenhof 03 - Im Banne des Falken
erwehren.«
»Du auch, Sadik«, gab Tobias lachend zurück. »Die Wüste scheint demnach auch kein allzu schlechter Lehrmeister zu sein.«
»Und doch bleibt mancher so dumm, dass er den Schwanz des Esels, auf dem er sitzt, nur mit der Laterne sieht«, antwortete Sadik brummig.
»Was ist überhaupt aus diesem Galilei geworden?«, wollte Jana wissen.
»Man hat ihn, wie schon gesagt, im Namen des Christentums und angeblich zu seinem eigenen Besten in einem Kloster bei Rom dazu gezwungen, all seine wissenschaftlichen Erkenntnisse und Lehren,
die nicht im Einklang mit der Auffassung der Kirche standen, zu widerrufen. Das war das bittere Ende seines über zwanzigjährigen Kampfes um die Anerkennung eines neuen, wissenschaftlichen Weltbildes, das auf den Erkenntnissen des Astronomen Nikolaus Kopernikus basierte«, berichtete Tobias. »Galilei erhielt vom Gericht des heiligen Offiziums auch eine entsprechende Belohnung für seinen Widerruf.«
Jana sah ihn erwartungsvoll an.
»Statt als Ketzer öffentlich hingerichtet und verbrannt zu werden, ließ man sogenannte christliche Milde walten und verurteilte ihn nur zu lebenslangem Hausarrest«, teilte Tobias ihr sarkastisch mit und dachte mit Bitterkeit daran, dass es seinem Onkel im Kerker von Mainz nicht viel anders erging. Auch er musste sich zähneknirschend der Macht und Willkür der Herrschenden beugen, um sein Leben zu retten und sein Werk fortführen zu können.
Sadik seufzte. »Die Verbrechen, die im Namen der Religion begangen worden sind und wohl auch in Zukunft noch geschehen werden, sind schrecklich – ob im Namen Allahs oder im Namen des Christentums«, pflichtete er ihm bei. »Doch wir dürfen es nicht der Religion anlasten, sondern der Schlechtigkeit und dem blutrünstigen Fanatismus mancher Religionsführer, die die Religion für ihre Machtinteressen missbrauchen.
Nicht erst der weise Scheich Kalim erkannte: ›Das Unglück der Menschen kommt von den Menschen.‹« Er machte eine Pause und sagte dann: »Die wahre Religion ist in ihrem Kern die Liebe, ob man nun Muslim oder Christ ist.«
Einen Augenblick herrschte nachdenkliches Schweigen, wenn man vom Zischen des Dampfes, dem gleichmäßigen Rattern der Maschine und dem Knirschen von Sand und Steinen unter den Eisenrädern absah.
Es war Borstenkopf, der das Schweigen Augenblicke später brach, als er sie auf die Maulbeerbäume hinwies, die eine lange Allee bildeten – und an deren Ende heller Lichtschein zu sehen war. Der Wald wich hinter ihnen zurück und gab weiten Wiesen und Weiden jenseits der Spalier stehenden Maulbeerbäume Raum.
Es war eine prächtige Allee, das ließ sich auch bei Dunkelheit feststellen. »Es muss eine sehr alte Allee sein«, meinte Tobias und dachte dabei an die stolzen Ulmen, die den Weg säumten, der zum Westtor von Gut Falkenhof bei Mainz führte.
»O nein, diese Allee ist noch jüngeren Datums«, teilte Borstenkopf ihnen mit. »Die Bäume hat erst Lord Jonathan Burlington anlässlich der Krönung von Königin Anne gepflanzt.«
»Und wann war das?«, fragte Jana.
»Erst im Jahre des Herrn 1702.«
Jana verzog das Gesicht. »So, erst 1702! Dann ist diese Allee natürlich wirklich gerade mal dem Sprösslingsalter entwachsen«, meinte sie spöttisch und verdrehte die Augen, während sie zu Tobias und Sadik blickte.
Sadik lächelte. Hegartys Auffassung von Zeit lag ihm sehr nahe. Was waren schon ein paar Jahrhunderte in der Geschichte der Menschheit? Nicht mehr als ein Sandkorn in der Wüste.
Tobias sah Licht durch die Bäume schimmern und beugte sich erwartungsvoll vor. »Da ist es!«, rief er aufgeregt.
Vor ihnen lag Mulberry Hall.
Lord Burlington
Der Familiensitz von Lord Burlington erstrahlte im hellen Schein von mehr als zwei Dutzend Laternen. Ihre Leuchtkraft verriet, dass es sich dabei um Gaslampen handelte. Sie schienen zwischen kugelrund geschnittenen, hüfthohen Buchsbäumen vor der Längsfront des lang gestreckten Gebäudes wie eine Lichtergarde Wache zu stehen.
Das Herrenhaus erhob sich auf einer leichten Anhöhe und erschien dadurch noch größer und imposanter, als es schon in Wirklichkeit war. Es hatte hohe, spitze Fenster und alle anderen Merkmale spätgotischer Baukunst auf englischem Boden sowie die Ausmaße eines königlichen Palastes. Wer immer von Rupert Burlingtons Vorfahren dieses Gebäude hatte errichten lassen, von mangelndem Selbstdarstellungsgefühl war er gewiss ebenso wenig gequält worden wie von Geldsorgen. Das Gebäude
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