Falkenhof 03 - Im Banne des Falken
machte den Eindruck, als hätte es so viele Zimmer wie das Jahr Tage. Der Stein, aus dem der fürstliche Landsitz dreieinhalb Stockwerke hoch errichtet worden war, leuchtete in einem warmen sandgelben Ton. Zumindest traf das auf die wenigen freien Flächen zu, wo die jahrhundertealte Fassade noch nicht unter dem dichten Geflecht von grünem Efeu und anderen wild wuchernden Ranken verborgen lag.
»Das ist ja …« Jana fehlten die Worte. Mit offenem Mund bestaunte sie Mulberry Hall.
Auch Tobias hatte noch kein herrschaftliches Anwesen zu Gesicht bekommen, das diesem hier gleichgekommen wäre. Und dazu dieser Luxus von Gaslampen! Er war schlichtweg sprachlos.
Nicht jedoch Sadik, der sein nicht minder großes Staunen in die Worte kleidete: »Eine Dattel für jedes Zimmer – und eine Händlerseele könnte in Cairo ein blühendes Geschäft eröffnen!«
»Und da wohnt Lord Burlington ganz allein?«, wunderte sich Jana.
»Allein bestimmt nicht«, meinte Tobias und sagte scherzhaft: »Von der Heerschar normalen Dienstpersonals einmal ganz abgesehen, die man für so ein Herrenhaus braucht, hat er bestimmt noch ein dutzend Führer eingestellt, die sich jeweils in einem Teil seines Palastes auskennen und ihn davor bewahren, dass er sich verirrt und auf ewig verschollen bleibt.«
Die Allee der Maulbeerbäume mündete in einen Vorplatz, der von wunderschönen Blumenrabatten und gepflegten Rasenflächen beherrscht wurde. Hegarty lenkte den Dampfstraßenwagen die halbkreisförmige Auffahrt hinauf, die mit der Abfahrt zurück zur Allee einen perfekten Kreis um Blumen und Rasen bildete.
Auf halber Höhe der Freitreppe, die zum Portal von Mulberry Hall hochführte, wartete schon eine stattliche, aufrechte Gestalt. Sie trug einen schwarzen Anzug, eine weiße Hemdbrust und eine passende Halsbinde.
Tobias beugte sich etwas zu Sadik hinüber. »Ist das Rupert Burlington?«, fragte er leise.
Dieser schüttelte den Kopf. »La, nein. Sihdi Burlington ist das sicherlich nicht. Dafür hält sich der Mann viel zu stocksteif. Das muss sein Butler sein.«
Und so war es auch. Als Borstenkopf den Dampfkraftwagen vor der Freitreppe zum Stehen brachte, rief er zu dem Mann hinüber: »Die Gäste für Seine Lordschaft, Mister Talbot!«
»Fast hätte ich es mir gedacht, Mister Hegarty«, lautete die leicht sarkastische Antwort des Butlers, ohne dass dieser sich jedoch von der Stelle rührte.
Jana und Tobias kletterten mit gemischten Gefühlen vom Wagen. Parcival Talbot machte nicht gerade einen herzlichen, einladenden Eindruck. Auch Sadik nahm sein Bündel, drückte Hegarty eine Münze in die Hand und stieg aus. Lisette dampfte zum Torhaus zurück.
Parcival, ein Mann in den Fünfzigern, musterte sie von seiner erhöhten Position aus mit ausdrucksloser Miene. Doch Tobias hatte das Gefühl, als wäre Parcival Talbot alles andere als erfreut über ihr unangemeldetes Erscheinen.
»Der steht da wie aus Stein gehauen«, raunte Jana, die sich unter dem Blick des Butlers auch nicht wohl fühlte.
»Die Prinzessin von Alouette nimmt der Stockfisch mir garantiert nicht ab!« Und von dem Moment an hatte Parcival Talbot bei ihnen seinen Spitznamen weg: Stockfisch.
Sadik wollte ihn gerade ansprechen, als jemand aus dem Portal kam und die Freitreppe zu ihnen hinuntereilte. »Das ist er!«, rief er leise und fast ein wenig erleichtert.
Jana und Tobias waren von Lord Burlingtons Erscheinung ebenso überrascht wie von Mulberry Hall. Er sah aus wie sein eigener Hilfsgärtner: ein großer hagerer Mann, der sich nach vorn gebeugt hielt, als hätte er sich den Rücken im Freien krumm geschuftet. Sein Haar hatte die Farbe von rot-brauner Wolle und war so wenig gekämmt wie das Fell eines Hochlandschafes nach einer stürmischen Nacht im Freien. Er hatte tiefe Ratsecken im Haar, einen buschigen Schnurrbart und eine daumenlange Narbe über dem linken Wangenknochen, die zweifellos von einer scharfen Klinge herrührte.
Was seine Kleidung betraf, so erinnerte auch sie auf den ersten Blick an die einer Hilfskraft, die in den Garten- und Parkanlagen von Mulberry Hall erfahrenen Gärtnern zur Hand ging. Ausgebeulte Cordhosen von beiger Farbe steckten in verschlissenen braunen Halbstiefeln mit Krempe. Über einem einfachen, weißen Leinenhemd trug er eine ärmellose Strickweste, die ihm viel zu groß war und schlabberig an ihm herabhing. Ihre Farbe war ein undefinierbares Gemisch aus braunen und grau-blauen Tönen und sie sah so aus, als wäre sie das bedauernswerte
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