Falkenhof 03 - Im Banne des Falken
Füßen, als er sich aus dem Zimmer schlich, doch weder Jana noch Sadik erwachten. Behutsam schloss er die Tür. Dann fuhr er in seine Schuhe und ging im Herrenhaus auf Entdeckungsreise.
Er versuchte sich an den Weg zu erinnern, den der Diener genommen hatte, als er sie letzte Nacht vom »kleinen Esszimmer« in das Obergeschoss zu ihren Unterkünften geführt hatte. Doch er hatte sich mit Sadik und Jana unterhalten und wenig Acht gegeben, wo der Diener abgebogen und welche der vielen Gänge er mit ihnen in welche Richtung gegangen war.
Es machte Tobias jedoch nichts aus, sich wie in einem Labyrinth auf die Suche nach dem Ausgang machen zu müssen. Er hatte viel Zeit, der Morgen war noch jung und es gab in den Räumen, in die er gelangte, überall viel zu sehen und zu bestaunen. Eine gute halbe Stunde hielt er sich in der Bibliothek auf, in die ihn der Zufall führte. Sechs hohe Fenster gingen zur Allee hinaus und ließen das erste Licht in den großen, hohen Raum, dessen deckenhohe Bücherwände aus dunklem Holz mit tausenden von ledergebundenen Bänden voll gestellt waren. Fast so viel Interesse schenkte er auch der Sammlung von alten Schilden, Ritterrüstungen und den dazugehörigen Waffen, die die Wände eines Saales bedeckten, in den er kurz darauf gelangte. Und einem Stammbaum entnahm er, dass Rupert Burlington seine Ahnen bis in das fünfzehnte Jahrhundert zurückverfolgen konnte.
Tobias lachte leise auf. »So gesehen ist die Allee der Maulbeerbäume tatsächlich erst jüngeren Datums«, murmelte er in Erinnerung an Borstenkopfs scheinbar blasierte, tiefstapelnde Bemerkung, sie sei doch erst 1702 angelegt worden.
Jetzt, wo es heller geworden war und er spürte und hörte, dass Mulberry Hall zum Leben erwachte, gab er sein eigentlich zielloses Herumstreunen auf. Er fand bald den Gang, der die Längsachse des Herrenhauses bildete, und traf dann am Fuß der Treppe, die in die weitläufige Eingangshalle hinunterführte, auf Parcival Talbot.
Der Butler schien wie aus dem Nichts aufzutauchen. »Schon die Beute taxiert?«, fragte er mit scheinbar höflichem Interesse.
»Wie bitte?«, fragte Tobias entgeistert zurück.
»Derbe Jutesäcke finden sich drüben im Schuppen bei den Stallungen. Damit lässt sich eine Menge wegschaffen, zumal wenn man zu dritt ist und ein wenig Anstrengung nicht scheut«, näselte Parcival.
Tobias hatte noch nie in seinem Leben einen so dreisten, ja, unverschämten Bediensteten erlebt wie diesen Butler. Ihm fehlten fast die Worte. Parcival hielt sie offenbar für Gesindel der Straße und ließ ihnen die Verachtung zuteil werden, die er in anderer Form auch für Lord Burlington empfand. »Werden Sie nicht beleidigend, Mister Talbot!«, fuhr er ihn erbost an.
»Parcival, wenn ich bitten darf, ganz einfach Parcival. Und ich bin nur bemüht, den individuellen Ansprüchen der Gäste gerecht zu werden, ganz wie es mir Seine Lordschaft aufgetragen hat«, antwortete er mit triefendem Hohn. »Wenn ich also behilflich sein kann …«
»Ja, das können Sie!«, fiel Tobias ihm scharf ins Wort.
Der Butler hob eine Augenbraue, während er die zerschlissene Kleidung seines Gegenübers musterte. »Lassen Sie mich raten. Steht Ihnen der Sinn vielleicht nach ein wenig körperlicher Morgenertüchtigung? In dem Fall wird Ihnen Jonas, der Stallknecht, gern eine Striegelbürste überlassen oder eine Pferdebox zum Ausmisten zuweisen, falls Ihnen diese Tätigkeit mehr liegt. Oder möchten Exzellenz, dass ich Ihnen die Adresse von Hegartys Schneider nenne? Der beliefert seine Kunden von der Stange. Sie werden von der Qualität seiner derben Wolle begeistert sein. So etwas haben Sie gewiss noch nie getragen.«
Tobias unterdrückte seinen Zorn. »Parcival, Parcival«, sagte er tadelnd und schüttelte dabei mitleidig den Kopf. »Wissen Sie, was mein Freund Sadik jetzt zu Ihren ungehörigen Bemerkungen sagen würde?«
»Ich nehme an, Sie sprechen von Scheich Talib, dem König der Sandflöhe?«
»Sie haben einen interessant ausgeprägten Sinn für nicht ganz alltäglichen Humor, Parcival«, erwiderte Tobias sarkastisch. »Doch was ich sagen wollte: Sadik hätte für Sie eine passende arabische Spruchweisheit parat, etwa diese: ›Ein Dummkopf bleibt ein Dummkopf, auch wenn er seinen Schnurrbart nach hinten dreht!‹ sowie ›Das Gekläffe der Hunde macht auf die Wolken keinen Eindruck‹. Ich denke, das trifft die Sachlage recht gut.«
Parcival hatte sich gut unter Kontrolle, vermochte eine gewisse
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