Falkenjagd: Ein Fall für Robert Walcher (Ein Robert-Walcher-Krimi) (German Edition)
wiederholte seine Frage, weil Marianne ihn nicht verstanden hatte.
»Ich fürchte ja, man hat auf ihrem Kopfkissen Blutspuren gefunden, die definitiv nicht von ihr stammen. Der medizinische Dienst hatte sie nämlich am Vortag untersucht und ihr auch Blut abgenommen. Das Blut auf dem Kissen könnte also von ihrem Entführer stammen, denn es sah aus, als ob ein Kampf stattgefunden hätte … Vielleicht hat Jeswita ihren Entführer verletzt, aber das sind nur Vermutungen. Es gibt keine Zeugen, und außerdem ist es kein Problem, in das Gebäude hinein und wieder hinauszukommen, ohne dass jemand davon Notiz nimmt. Das ist alles so schrecklich«, stöhnte Marianne. »Ich ruf’ dich an, wenn ich etwas Neues erfahre. Wenn ich mir vorstelle, dass die da einfach hineingegangen sind …«
»Und ich überlege«, unterbrach sie Walcher, »woher sie wussten, wo Jeswita untergebracht war?«
»Darüber haben wir auch schon spekuliert, aber das ist relativ einfach zu erklären: Es stand dick und fett in der Zeitung.«
So wie Marianne es betonte, klang es wie ein Vorwurf gegen alle Journalisten. Aber Walcher hörte nur noch halb zu, er dachte an seine Visitenkarte, auf die er auch Johannes’ Nummer geschrieben hatte, bevor er sie Jeswita überreicht hatte. Vermutlich hatten die Entführer Jeswita und ihren spärlichen Besitz längst durchsucht und waren auch auf die Visitenkarte gestoßen. Ein beunruhigendes Gefühl. Walcher erzählte Marianne davon und bat sie, Johannes zu informieren, oder hätte er besser von einer Warnung sprechen sollen?
»Meine Güte«, flüsterte Marianne, »wenn ich mir vorstelle, dass diese Typen, die sogar in Wohnheime eindringen und Frauen entführen, Johannes’ Nummer, Namen und die Adresse kennen!«
Ohne sich zu verabschieden, legte Marianne auf. Walcher konnte sie zwar gut verstehen, aber er stufte die Möglichkeit, dass die Entführer Jeswitas etwas von Johannes oder ihm wollten, eher als gering ein. Gut, sie kannten seinen Namen, Anschrift und Telefonnummer, und sie wussten, dass sich ein Journalist mit Jeswita unterhalten hatte, aber was sollte das schon groß bedeuten? Vermutlich würden sie Jeswita ausquetschen, was sie diesem Journalisten ausgeplaudert hätte, und das war’s dann. Er sah sich da nicht in der Gefahrenzone, auch wenn er die kriminelle Energie dieser Verbrecher grundsätzlich nicht unterschätzte. Viel wichtiger für Walcher war die Frage, was mit Jeswita geschehen war.
Nur eine lächerlich kurze Zeit hatte sie sich in dem Glauben gewähnt, dem Grauen entkommen zu sein und Pläne für die Zukunft schmieden zu können.
Für Jeswita Drugajew war die Hoffnung auf ein Leben ohne Qualen und Demütigungen wieder mal erloschen. In den Tagen in Zürich hatte sie sich frei und leicht gefühlt wie eine Feder und sich treiben lassen. Sie hatte ihre Freiheit berauschend wie eine Droge empfunden. Zürich, die Menschen, die Geschäfte, Cafés, Kirchen, Parks und Museen, sie war nicht müde davon geworden, nicht satt und hatte alles in sich aufgesogen, was sie sah, roch und hörte, und diese Tage in Freiheit entgegengenommen wie ein Geschenk des Himmels. Was für ein unbeschreibliches Gefühl!
So jedenfalls hatte sie es tagsüber empfunden. Aber in den Nächten, in der Dunkelheit hatten sie die Träume eingeholt und mit ihnen die Angst und das Grauen. Und dann war mitten in der Nacht ihr schlimmster Alptraum brutale Wirklichkeit geworden. Zwar hatte sie es geschafft, dem Lederjackentyp in die Hand zu beißen, aber der Elektroschocker hatte ihren Widerstand gelähmt. Sie waren zu zweit gewesen und hatten ihr befohlen, sich anzuziehen und ihre Sachen in die Tasche zu packen. Dann hatte dieser Typ sie auf den Mund geschlagen und sie an den Haaren aus dem Zimmer gezerrt. Am nächsten Abend, kurz nach der Ankunft in Berlin, vergewaltigte sie der erste von sechs weiteren Kunden. Jeswita Drugajew beschloss in jener Nacht, diesem Leben zu entfliehen, wie auch immer.
Küstenpatrouille
Ernst Kruger, Commander eines Küstenwachschiffs der Vereinigten Staaten von Amerika, stand zusammen mit dem Ersten Offizier und dem Navigator auf der Brücke und blickte verträumt in den wolkenlosen Himmel. Nach einer stürmischen Woche hatte sich das Meer beruhigt und funkelte in der Sonne, als wären Diamanten in ein riesiges blaues Tuch eingewoben.
Kruger traten Tränen in die Augen, nicht weil die Sonne ihn blendete, sondern weil er an seine Tochter dachte. Seit einer Woche lebte sie in New York, um dort
Weitere Kostenlose Bücher