Falkenjagd: Ein Fall für Robert Walcher (Ein Robert-Walcher-Krimi) (German Edition)
um 9.26 abholen würden; so hatte es Irmi jedenfalls mit ihnen vereinbart.
Als Irmi in den Zug gestiegen war, kamen Walcher plötzlich seltsame Gedanken über Verantwortung und dergleichen in den Sinn. Durfte er das Kind so einfach allein nach Zürich fahren lassen? Susanna spürte wohl, was in ihm vorging, und meinte, dass sie zwölf Jahre alt gewesen sei, als sie ihren Vater in Amerika besuchen durfte, mit Zugfahrt und Flug. Und auf dem Flughafen stand damals nicht der Vater, sondern ein riesengroßer schwarzer Taxifahrer mit einem Schild »Susanna from Germany«.
Walcher nickte, mehr war dazu nicht zu sagen. Trotzdem rief er Johannes an, nachdem der Zug abgefahren war. Susanna lächelte milde, weshalb sich Walcher zu einer Erklärung gedrängt sah. »Ich weiß, das sieht vielleicht ein bisschen blöd aus, aber sie ist das erste Mal allein unterwegs, und außerdem stecke ich gerade in einer grässlichen Recherche über Menschenhandel, und das fördert nicht gerade den lockeren Umgang in solchen Situationen.«
»Erzähl mir davon«, bat Susanna, »nein, erzähl mir doch lieber nichts.«
Walcher umarmte sie. »Wir haben zwei ganze Tage und zwei Nächte, was machen wir?«
»Wir lassen uns einfach treiben«, schlug Susanna vor und biss zärtlich in seine Unterlippe.
Lovis Letchkov
Lovis Letchkov hatte etwas aus sich gemacht. Bereits während der Schulzeit hatten Feind und Freund ihm das vorausgesagt. Streng genommen hätte man auch damals schon ausschließlich von Feinden sprechen können, denn Freundschaft kannte Lovis nicht, und er schien die Erfahrung freundschaftlicher Beziehungen auch gar nicht erst machen zu wollen.
Zu anderen Zeiten wäre Lovis vielleicht ein Henker oder ein Waffenknecht geworden. Im Hier und Jetzt hatte er es offiziell zum »Pensionswirt« gebracht. Im östlichen Teil von Berlin betrieb er eine Pension, die so heruntergekommen und verdreckt war, dass der Wirtschaftskontrolldienst sie aus seuchenhygienischen Gründen bereits wiederholt geschlossen hatte. Lovis vermietete die Zimmer allerdings nicht an übliche Gäste, sondern hatte die Pension pauschal an das Syndikat verpachtet.
Einmal im Monat, das war anfänglich Bestandteil der Vereinbarung, durfte er nach eigenem Belieben über eine Frau verfügen. Wenn sich Lovis dann erst einmal an ihr ausgetobt hatte, vermietete er sie, quasi im Zehnminutentakt. Das hatte selten eine der Frauen ohne bleibende psychische und physische Schäden ausgehalten, weshalb das Syndikat die Naturalregelung gestrichen hatte. Dagegen wehrte sich Lovis nicht groß, denn seine Haupteinkünfte stammten aus »Sonderaufträgen«, mit denen er ebenfalls vom Syndikat versorgt wurde.
Lovis war ein käuflicher Killer, und zwar ein absolut verlässlicher Profikiller. Seine Erfüllungsquote lag immerhin bei satten hundert Prozent, im Gegensatz zu seinem IQ . Seine Gefühlswelt als dumpf und roh zu bezeichnen, war noch ein Kompliment, billigte es ihm doch überhaupt Gefühle zu. Lovis besaß den Sozialisierungsgrad einer Rasierklinge oder einer Metallkugel, denn die war sein Markenzeichen. Lovis erschoss, erstach, erwürgte oder vergiftete seine Opfer nicht, nein, er schlug ihnen mit einer golfballgroßen Stahlkugel, die an einem Hartgummigriff hing, den Schädel ein. Manchmal beschränkte sich sein Auftrag auch nur darauf, eine Kniescheibe zu zertrümmern oder Fingerknochen zu zersplittern, als Warnung und je nachdem, wie wertvoll das Opfer für das Syndikat noch war. Bei leichten Fällen, ausgebliebenen Schutzgeldzahlungen zum Beispiel, genügte es meist, wenn Lovis dem säumigen Zahler nur einen Besuch abstattete. Die meisten Menschen erstarrten vor Schreck, wenn er ihnen nur gegenübertrat – er sah aus wie eine der übelsten Horrorkreationen aus Hollywood. Diagonal über sein Gesicht verlief eine wulstig klaffende, rotfleischige Narbe, deren Ränder mit eitrigen Geschwüren besetzt waren, Folge eines Machetenhiebes und der über Wochen unversorgt gebliebenen Wunde.
Damals sollte Lovis den Kassierer eines illegalen Wettbüros aufspüren, der vor dem Syndikat über die halbe Welt in den malaiischen Dschungel geflüchtet war. Lovis hatte ihm das noch vorhandene Geld abnehmen, ihm dann beide Kniescheiben zertrümmern, die Knochen der Diebeshand brechen und erst danach den Schädel einschlagen sollen. Wie erwartet, hatte Lovis die Wünsche seines Auftraggebers erledigt, dabei jedoch übersehen, dass sich der Kassierer den Schutz einer Rebellengruppe eingekauft
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