Falkensaga 01 - Der Schrei des Falken
den wertvollen Fund in die Hand - und jetzt erst, als er ihn vor einer der Flammen hin und her bewegte, glaubte er etwas zu bemerken. Er bewegte den Ring so lange, bis er wieder die genaue Position fand - und dann sah er es: Ein sanftes Glimmern zog sich über die gesamte Innenseite des Kreises, wobei winzige Lichtstrahlen nach innen flackerten und sich in ein durchsichtiges, aber doch klar sichtbares Feld verwandelten, wie eine äußerst feine Kristallscheibe. Aufgeregt stellte er fest, dass er jetzt etwas erkennen konnte, das wenige Augenblicke zuvor noch unsichtbar gewesen war. Sein Bemühen und sein Drang nach Wissen wurden belohnt. Es gab über kurz oder lang nichts, was nicht entdeckt werden würde. Er durfte also nicht aufgeben.
Gezielt hielt er die beiden Hälften im richtigen Winkel, dann zog er sie auseinander und beobachtete aufmerksam den leeren Raum zwischen ihnen, wo sich der feine Schimmer zeigte.
Plötzlich blitzte es; ein reißendes Geräusch raste durch den Raum. Die Krafteisen wurden so heiß, dass er sie fallen lassen musste. Noch im Fall sprangen sie wieder zusammen und schlugen als vollständiger Ring mitten auf der Tischplatte auf. Erschrocken starrte er darauf. Etwas geschah ... ein wilder Lichtwirbel bildete sich in der Kreismitte und begann in einer spiralenförmigen Bewegung von der Tischplatte hochzusteigen, bis er direkt vor Malnars verblüfftem Gesicht schwebte. Er blickte plötzlich in ein ganzes Universum sich wild drehender Galaxien, Sterne und Planeten. Die Erscheinung war von solcher Schönheit, dass sein Herz stillzustehen schien. Ganz allmählich formten sich daraus die Gesichtszüge einer Frau ... der bezauberndsten Frau, die er jemals gesehen hatte. Ihre Haut war wie Elfenbein und wirkte durch das offen herabwallende, dichte ebenholzschwarze Haar noch durchscheinender. Doch es waren ihre großen, fesselnden Augen, die ihn für eine schier endlose Zeit zu bannen schienen. Endlich begann sie zu sprechen; ihre Worte drangen in jede Faser seines Körpers wie eine bedingungslose Einladung.
»Ich kenne dein Sehnen: den edlen Wunsch, deinen Geist zu öffnen und dein Wissen über seine irdischen Grenzen hinaus zu erweitern. Ich bin gekommen, dir zu helfen. Du kannst diesen Weg nicht allein gehen - er ist zu gewaltig -, aber ich kann deine Fähigkeiten vergrößern, wenn du es willst. Sprich zu mir über deinen Herzenswunsch: über die Träume, von denen du glaubst, sie könnten niemals wahr werden; über die Wunder, die du vollbringen würdest, wenn du nur die Schwingen ausbreiten und fliegen könntest. Nur für dich bin ich gekommen. Sprich zu mir!«
Die süße Macht ihrer Stimme trieb Malnar Tränen in die Augen. Zum ersten Mal, seit er sich erinnern konnte, fühlte er sich nicht mehr allein. Jemand verstand ihn; jemand war bereit ihm wirklich zuzuhören. Er wusste, dass er nichts zurückhalten würde, nicht einmal seine tiefsten und geheimsten Sehnsüchte. Sie würde ihn nicht verurteilen und nicht verfluchen. Und so begann Malnar zu sprechen, schilderte ihr seine Kindheit, seine Erziehung, seine inneren Kämpfe, als ihm allmählich bewusst geworden war, dass jedes neu erworbene Körnchen Wissen seinen Preis kostete. Er gestand ihr, wie neidisch er auf all jene war, die mit den natürlichen Gaben geboren wurden; wie er sich wunderte, dass einige es so leicht hatten, während er alles nur unter größten Mühen erreichen konnte. Er erzählte ihr seine Lebensgeschichte und er vergaß keine einzige Episode, selbst wenn sie ihm unbedeutend erschien. Sie gab ihm das Gefühl, dass für sie selbst der kleinste Vorfall wichtig war, und ihre uneingeschränkte Aufmerksamkeit umhüllte ihn wie ein schützender Mantel. Der Nachmittag ging in den Abend über, der Abend in die tiefste Nacht. Noch immer sprach er und noch immer lauschte sie seinen Worten. Als er zum Ende kam, hatte sich sein Leben verändert: Malnar hatte sich zutiefst verliebt.
Alduin und Erilea waren den ganzen Nachmittag beisammen geblieben. Es war ihnen klar, dass sie in ihrer Beziehung zueinander einen entscheidenden Schritt getan hatten. Sie holten Rihscha und schlenderten durch die Stadt zum Osttor. Ihr Weg führte sie durch die wohlhabenden Viertel, in denen bedeutende Kaufleute in eindrucksvollen Häusern wohnten. Die vierte Glocke tönte von den Türmen. Während im Stadtzentrum lebhaftes Treiben herrschte, war es in diesen Straßen viel ruhiger. Die meisten Bewohner gingen im Haus ihren Geschäften nach oder hielten
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