Falkensaga 01 - Der Schrei des Falken
zu beschäftigen, die er nicht mehr steuern kann«, meinte Alduin. »Ich bin ziemlich sicher, dass er sich im Netz einer dunklen und bösen Macht verstrickt hat. Ich weiß, dass sie ihm als schöne Frau erscheint, denn ich habe schon zweimal Visionen gehabt, in denen ich sie gesehen habe, und beide Male öffnete sich der magische Nebel, der Nymath schützt, um dieses ... Wesen eindringen zu lassen.«
Melethiell schwieg.
»Wisst Ihr nicht, wer sie sein könnte?«, fragte Alduin schließlich.
Sie löste sich aus ihrer Erstarrung und schüttelte den Kopf. »Nein. Doch wenn das stimmt, was du sagst - und daran habe ich keinen Zweifel -, dann ist jetzt klar, woher Malnar von der doppelten Finsternis wusste. Ein Wesen, wie du es beschreibst, würde wissen, dass ein solch einmaliges und bedeutsames Ereignis große Macht über die Menschen ausübt und wie diese Macht zu nutzen ist. Doch welche Folgen sich daraus ergeben, weiß ich nicht.«
Die Reisegefährten, die so voller Zuversicht losgezogen waren, brauchten nicht lange, um wieder nach Sanforan zurückzukehren. Sie versammelten sich in Melethiells Gemächern. Die Katauren waren als Erste aufgewacht, als die Sterne verblassten, und hatten ihre Wachposten bezogen, ohne zu bemerken, dass etwas nicht stimmte. Erst bei Tagesanbruch, als die übrigen Reisenden erwachten, hatten sie zu ihrem Entsetzen entdeckt, dass Malnar und Kirstie verschwunden waren. Hektisch hatten sie die ganze Umgebung des Lagers abgesucht, aber dichter Nebel verhüllte alles. Sie hatten bald einsehen müssen, dass weiteres Suchen vergeblich sein würde. Jeder der Gefährten empfand eine gewisse Schuld, jeder war überzeugt, dass er etwas hätte tun können, um die Katastrophe zu verhindern. Doch ihnen wie auch den Wächtern war klar, dass sie von dem tiefen Geheimnis gebannt worden waren, das die doppelte Finsternis umgeben hatte: Eine alles umfassende Macht war am Werk gewesen, so groß und stark, dass ihr niemand hatte widerstehen können.
Die Reisegefährten hatten zunächst vermutet, dass Kirstie zusammen mit dem Onur entführt worden wäre. Nun hörten sie Alduins Erklärung.
»Bist du absolut sicher?«, fragte Aranthia ihren Sohn voller Entsetzen. Es war eine Frage, die allen auf der Zunge brannte.
»Ja«, antwortete er ohne jedes Zögern. »Ich kenne nicht alle Einzelheiten, aber die wichtigsten Dinge passen leider nur zu gut zusammen. Ich weiß, dass dies die Wahrheit ist: Seit wir Kirstie letztes Mal befreit haben, ist Malnar ein anderer Mann geworden. Aber das hatte nichts mit Cartos Verbrechen zu tun. Es muss etwas geschehen sein, etwas, das einer bösen Macht die Tür öffnete, sodass sie zu ihm sprechen konnte. Ich weiß auch nicht, ob diese Frau wirklich lebt oder ob sie vielleicht eine Art Geist ist, aber jedenfalls übt sie sehr starke Macht auf ihn aus. Vielleicht ist es ihm selbst gar nicht bewusst, aber er ist zu einer Marionette dieses bösen Wesens geworden.«
Eine Zeit lang herrschte dumpfes Schweigen. Alduins Enthüllungen hatten alle wie ein harter Schlag getroffen.
»Wir müssen sofort alle mobilisieren«, sagte der Katauren-Hauptmann schließlich entschlossen.
»Ja«, stimmte Melethiell zu. »Stillschweigen hilft jetzt nicht mehr weiter. Alle in Nymath müssen die Augen weit offen halten und nach ihnen suchen.«
Sie versank tief in Gedanken; niemand wagte sie zu stören. Alle stellten sich vor, was geschehen würde, wenn die Nebelsängerin nicht gerettet werden konnte, und allen war klar, dass sie entschlossen handeln mussten, damit die Verzweiflung nicht überhand nahm.
Endlich erhob sich die Elbin und stand in ihrer hohen, majestätischen Gestalt vor ihnen. »Bittet Meister Calborth zu mir«, befahl sie. »Ich werde inzwischen den Hohen Rat zusammenrufen; Calborth wird uns in der Bibliothek finden.«
Die Anwesenden verabschiedeten sich voneinander und ein jeder fragte sich nachdenklich, welche Rolle ihm wohl in dem Drama bestimmt war, das sich jetzt entfaltete. Alduin und Rael war vollkommen klar, was sie zu tun hatten. Gefolgt von Silya und Erilea liefen sie zu den Käfigen und nahmen Sivella und Rihscha heraus.
»Flieg, Rihscha, flieg«, flüsterte Alduin und auch Rael murmelte seinem Falken ähnliche Worte zu. »Fliege über die verborgenen Waldpfade und die abgeschiedenen Täler. Suche in jedem Winkel von Nymath. Andere Falken werden dir folgen, aber du fliegst ihnen schon jetzt voraus. Wir dürfen nicht mehr länger warten.«
Die beiden Falken
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