Falkensaga 01 - Der Schrei des Falken
ein.
Im Zitadellengarten hatte sich eine Menschenmenge versammelt, um die Finsternis zu beobachten. Viele wichtige Bürger der Stadt hatten sich zu Melethiell und dem Hohen Rat gesellt, der vollzählig anwesend war. Alduin und Erilea hatten sich Meister Calborth, Meister Torm und einigen ihrer Bekannten angeschlossen. Als die Nacht immer weiter fortschritt und immer noch nichts geschehen war, verstärkte sich die Überzeugung des Astronomen, dass sich Malnar geirrt haben müsse.
»Ich habe keine Ahnung, woher er seine Informationen bezieht«, erklärte Torm immer wieder jedem, der ihm noch zuhören mochte. »Bekam nie eine Gelegenheit, ihn nach den Einzelheiten zu fragen, und in meinen Karten habe ich keinerlei Hinweis auf eine solche Finsternis gefunden.«
»Aber, Meister Torm, Malnar ist doch auch ein Seher«, warf Alduin ein, um ihn in Schutz zu nehmen. »Wenn die doppelte Finsternis so selten ist - vielleicht sogar die erste überhaupt -, dann wäre es ja klar, warum es noch keine Aufzeichnungen gibt.«
»Damit hat der Junge wohl Recht, Torm«, sagte Calborth. »Ich denke ...«
»Seht!«, unterbrach ihn Erilea plötzlich, »jetzt passiert etwas!«
Sofort richteten alle den Blick zum Mond. Und tatsächlich - ohne jeden Zweifel war ein Schatten zu erkennen, der über seine Oberfläche kroch, wie ein Dieb in der Nacht, der sich sehr langsam heranschlich. Die Finsternis begann.
»Bei allen Sternen am Himmel!«, rief Torm aus, dessen Skepsis schnell von einer kindlichen Begeisterung verdrängt wurde. »Der Mann hatte doch Recht!«
Und wie über die Reisenden und alle anderen Beobachter in jedem Winkel des Landes senkte sich auch über die Menge im Garten ehrfürchtiges Schweigen, während sie voller Verwunderung das einzigartige Schauspiel verfolgte. Jeder, der hier stand und hinaufblickte, spürte, dass sich etwas in ihm veränderte, aber niemand wurde so schnell, so heftig und so grausam von Gefühlen überwältigt wie Alduin. Kaum hatte die Finsternis begonnen, als er ein unangenehmes Rumoren im Magen verspürte, ohne den Grund dafür zu kennen; bald zitterten seine Beine und die Wunde an seinem Arm brannte stärker als je zuvor, als sei ihm jeder einzelne Krallenabdruck mit einem heißen Eisen erneut eingebrannt worden.
»Ich muss mich setzen«, flüsterte er Erilea zu. Sie folgte ihm zu einer Bank in einem abseits gelegenen Winkel des Gartens.
»Was ist los mit dir?«, fragte sie, schaute aber gleichzeitig voller Staunen zum Mond hinauf. »Findest du es nicht auch unglaublich?«
»Ich ... ich hatte plötzlich so ein furchtbares, ziehendes Gefühl ... als ob alle Kraft und Energie aus meinem Körper herausgesaugt würden«, murmelte er schwach.
Erilea blickte ihn bestürzt an, setzte sich neben ihn und nahm seine Hand. Doch ihre Augen kehrten wieder zu der Finsternis zurück. Der bernsteinfarbene Schatten schien das silberne Licht aufzufressen. Der Vorgang wirkte auf sie ganz anders: Ihr erschien das dramatische Geschehen wie ein Kampf; zwischen Furcht und Liebe. Und sie war sicher, dass die Liebe siegen würde. Eine andere Möglichkeit hatte in ihrem Denken keinen Platz und diese Gewissheit gab ihr Energie, Hoffnung und Zuversicht. Auch Alduins Blick war gebannt: Alle Willenskraft, die es ihm ermöglicht hätte, den Blick abzuwenden, war versiegt. Nur sah er in der Finsternis keine Schönheit und verspürte keine Hoffnung. Für ihn war es ein makabrer Tanz: Dichte Rauchfahnen strömten aus der Finsternis und verschlangen alles; wütendes Feuer flammte im Innern empor; Blut mischte sich in einem gewaltigen Kessel mit glühender Lava. Sein Blick verschwamm in einem milchigweißen Nebel, löste sich in endlosen Wirbeln auf. Der völlig verfinsterte Mond legte sich wie ein blutroter, unheilvoller Schleier über die Welt und erstreckte sich in alle Richtungen. Die Schattenformen verwandelten sich in Gestalten, denen Leben eingehaucht wurde und die nun wie teuflische Irrlichter höhnisch in dem Flammenmeer tanzten und sprangen. Allmählich nahm einer der Schatten Gestalt an, verwandelte sich in eine Frau - eine Erscheinung von erhabener Schönheit und Bosheit zugleich.
Eine verhüllte Gestalt stieg in das Bild ein. Alduin sah eine Hand, die sich dem Wesen entgegenstreckte. Es war eine große, starke Hand mit feingliedrigen Fingern und sie schien ihm vertraut. Sein Umhang flatterte in der Hitze. Die Kapuze fiel nach hinten und gab sein kurzes, ergrautes Haar frei. Noch einmal spürte Alduin ein
Weitere Kostenlose Bücher