Falkensaga 01 - Der Schrei des Falken
einen Bogen und ein paar Pfeile. Am fernen Ende des Bogenschützenhofes hatte man Heuballen aufgestapelt und geflochtene Zielscheiben daran befestigt. In unterschiedlichen Abständen waren Linien in den gestampften Lehmboden geritzt worden.
»Jeder von euch tritt an die vorderste Linie. Dort führt ihr mit dem Bogen in der linken und einem Pfeil in der rechten Hand die Vorbereitungsübung durch. Wenn ihr auf den Fußballen steht, zielt ihr genau, dann lasst ihr euch auf die Fußflächen zurückfallen und schießt.«
Voller Ungeduld trieb er sie mit ein paar Handbewegungen an. »Macht schon, stellt euch hintereinander auf!«
Alduin stellte sich ans Ende der Reihe, weil er glaubte, noch etwas Zeit zu brauchen. Als er an die Reihe kam, war er sicher, dass seine Haltung gut genug sein würde. Doch als er den Pfeil abschoss, jagte plötzlich ein schmerzhafter Stich durch seine Finger. Der Pfeil traf gerade noch den äußersten Rand der Zielscheibe. Noch schlimmer als das armselige Ergebnis war der Schmerz, den er verspürte und der durch seinen Arm pulsierte. Er war so betäubend, dass ihm schwindelig würde.
»Stimmt was nicht?«, fragte Lotan. Sein Ton klang eine Spur zu unschuldig.
Alduin warf ihm einen Blick zu und entdeckte zu seinem Entsetzen ein schadenfrohes Grinsen, das um Lotans Lippen spielte. Er schüttelte den Kopf, schob seine Hand schnell unter die Achsel und verbiss sich ein schmerzhaftes Aufstöhnen. »Nein, alles in Ordnung. Aber ich hätte lieber einen anderen Bogen. Ich glaube nicht, dass der hier richtig gespannt ist.«
Alduin hatte keine Ahnung, warum ihm plötzlich dieser Verdacht kam, aber der Ausdruck in Lotans Gesicht - eine Mischung von Verlegenheit und Schuldbewusstsein - bestätigte ihm, dass der Lehrer bei der Sache irgendwie seine Hand im Spiel hatte. Alduin wartete gar nicht erst auf eine Antwort. Er riss sich zusammen und ging so gelassen wie möglich zu der Stelle, an der die Reservebogen an der Mauer lehnten. Er prüfte die Spannung bei einigen Bogen und wählte einen, der ihm ein gutes Gefühl gab.
Obwohl sein Finger schmerzte, war der nächste Schuss eine ganz neue Erfahrung. Der Pfeil schwirrte von der Sehne und landete ein gutes Stück näher am Zentrum als beim ersten Versuch. Bis es zum Mittagessen läutete, war Alduin mit seinen Leistungen im Bogenschießen mehr als zufrieden.
Beim Essen setzte er sich zu Erilea und den Wunand-Kriegerinnen und erzählte ihnen, was geschehen war.
»Ich glaube, dass mir Lotan absichtlich einen schlechten Bogen untergeschoben hat. Wahrscheinlich hoffte er, dass ich für den Rest des Vormittags ausfalle.« Verwundert schüttelte er den Kopf. »Aber irgendwie wusste ich plötzlich, was ich tun musste - es war wie eine Eingebung. Ich wechselte einfach den Bogen und danach war alles in Ordnung.«
»Du solltest es Calborth melden«, meinte Silya. »Irgendwie ist es einfach nicht richtig, wenn ein Lehrer seine Wut an einem Schüler auslässt - so berechtigt sie auch sein mag.«
»Berechtigt? Das bildet er sich doch nur ein!«, warf Erilea zu Alduins Verteidigung ein.
»Natürlich, das weiß ich auch!«, rief Silya erregt. »Aber es ändert rein gar nichts, oder? Alduin hätte sich ernsthaft verletzen können!«
»Ach was, es war ja nicht so schlimm und ich werde ihn nicht bei Calborth verpfeifen. Ich kann schon auf mich selbst aufpassen. Von jetzt an werde ich eben vorsichtiger sein müssen.«
Die Mädchen sahen an seinem Gesichtsausdruck, dass sie ihn nicht von seiner Ansicht abbringen konnten. Sie waren zu harten und sogar rücksichtslosen Kämpferinnen erzogen worden, hatten aber ein feines Gespür für Fairness. Es fiel ihnen daher schwer, Lotans Verhalten einfach hinzunehmen. Sie verhehlten ihre Wut auf den Lehrer nicht.
»Macht euch keine Sorgen, ich komme schon zurecht. Solange mir nichts Schlimmeres passiert ...« Er lachte alle unbekümmert an und fiel über sein Essen her.
Als er fertig war, besuchte er kurz Rihscha, dann ging er hinaus, um sich mit seiner Mutter zu treffen. Sie hatten vereinbart, dass er sie im Gasthof aufsuchen solle, sobald er konnte. Dieses Mal entschloss er sich einen Umweg zu machen. Er folgte der Hauptstraße, die die Innere Stadt mit dem Haupttor von Sanforan verband, dem Tor, durch das er mit Aranthia und Bardelph die Stadt betreten hatte. Er ging schnell und stellte befriedigt fest, dass er sich in dem geschäftigen Gewimmel der Stadt bereits wie zu Hause fühlte. Freilich würde es eine Weile
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