Falkensaga 01 - Der Schrei des Falken
dauern, bis er das Vertrauen der anderen Raiden gewinnen konnte. Die gleichaltrigen Jungen betrachteten ihn mit einer Art Ehrfurcht, weil er sich bereits mit einem Falken verbunden hatte, während die älteren Jungen sich fast nur um ihre eigenen Vögel kümmerten. Die meisten waren auch längst feste Freundschaften eingegangen und daher nicht sonderlich an dem unbekannten Hinterwäldler interessiert. Doch verhielten sie sich nicht feindselig und er hatte es sogar einmal geschafft, Rael und Thaibor beim Mittagessen an den Tisch der Wunand-Amazonen zu lotsen. Silya hielt das für eine beachtliche Leistung; vielleicht gelang es Alduin sogar, die Dinge hier ein wenig in Bewegung zu bringen, ein paar alte Verhaltensweisen und Sturheiten aufzubrechen, für die es ohnehin keinen Grund gab. Ja! Während er die belebte Straße entlangeilte, fand er, dass er in dieser neuen Welt gut zurechtkam. Von Lotan einmal abgesehen - das war die einzige dunkle Wolke an seinem Himmel fühlte er sich jeder Herausforderung gewachsen.
Er kam auf den Platz beim Haupttor und bog nach links in eine Gasse ab, die Marktgasse genannt wurde, wie er jetzt wusste. Wieder war er ganz durcheinander von all den aufregenden Eindrücken und fremdartigen Gerüchen. Wie den anderen Raiden hatte man ihm ein wenig Geld gegeben, damit er sich die eine oder andere Leckerei kaufen konnte. Er hatte die Münzen entgegengenommen, ohne zu wissen, was diese kleinen Metallstücke bedeuteten. Ihm fehlte die rechte Vorstellung davon, was man damit kaufen konnte. Schließlich hatte er noch nie in seinem Leben mit Geld zu tun gehabt. Er zog die Münzen aus der Tasche - eine aus Kupfer und zwei aus Bronze - und drehte sie hin und her, um herauszufinden, wie viel sie wert waren. Aber das brachte ihn nicht weiter, also steckte er sie wieder in die Hosentasche. In diesem Augenblick wurde er von drei Jungen angerempelt, die so eilig an ihm vorbeistürmten, dass er das Gleichgewicht verlor und in einen riesigen Korb voller Winteräpfel stürzte, der am Ende eines langen, mit allem möglichen Gemüse beladenen Tisches stand. Die Äpfel waren überreif und konnten höchstens noch zu Apfelmus oder Most verarbeitet werden. Als Alduin sich aus dem Korb hochgerappelt hatte, stellte er verärgert fest, dass seine Kleider hinten völlig verschmiert waren. Der Ladenbesitzer hatte alles beobachtet, schien aber eher belustigt als verärgert zu sein.
»Pech gehabt, mein Junge. Die haben dich sauber ausgenommen«, schmunzelte er.
»Sauber? Wie meint Ihr das? Meine Kleider sind dreckig!«, gab Alduin unglücklich zurück.
»Das stimmt, aber sieh mal in deinen Taschen nach, dann siehst du, was ich meine.«
Verwirrt fuhr Alduin mit den Händen in seine Hosentaschen. Sie waren leer. Die Münzen waren verschwunden.
»Sag ich doch!«, grinste der Ladenbesitzer. »Sie haben dich sauber ausgenommen!« Zum Trost warf er Alduin einen der besseren Äpfel zu, die auf dem Verkaufstisch aufgestapelt lagen. »Hier, das soll dir den Schrecken versüßen. An deiner Stelle würde ich nächstes Mal besser aufpassen.«
»Wie ... konnte das geschehen?«, fragte Alduin.
»Was bist denn du für einer? Bisschen ... schwach im Kopf, oder?«, rief der Mann. »Die drei Bengel haben dich mit Absicht über den Haufen gerannt und dir dann die Taschen ausgeräumt, mein Junge!«
Er lachte wieder vor sich hin, schüttelte den Kopf und wandte sich einem Kunden zu. Alduin betrachtete regungslos den Apfel und versuchte sich darüber klar zu werden, was gerade geschehen war. Eines war jedenfalls sicher: Die Münzen waren weg. Aber wie konnte jemand ihm die Münzen aus der Hosentasche holen, ohne dass er es spürte? Obwohl er nicht wusste, wie viel die Münzen wert waren, musste er sich eingestehen, dass ihm die Sache ziemlich die Laune verdorben hatte. Er biss in den kleinen, verschrumpelten Apfel, der wahrscheinlich den ganzen Winter über gelagert worden war, aber trotzdem so süß schmeckte, als hätte er die Erinnerung an den goldenen Herbst nach einem wunderbaren Sommer in sich gespeichert. Das hob seine Stimmung wieder ein wenig. Er machte sich auf den Weg zum Gasthof.
Kurze Zeit später öffnete er die Tür zum Zimmer seiner Mutter. Sie saß am Fenster und stopfte Socken. Jetzt trug sie wieder die Kleidung, an die er seit Jahren gewöhnt war, einen taubengrauen Rock, der ihr bis zu den Knöcheln reichte, ein hellblaues Hemd und ein dunkelblaues Oberkleid. Auf dem Tisch stand eine Vase mit Kornblumen
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