Falkensaga 01 - Der Schrei des Falken
Junge richtete sich überrascht auf. »Ja, Madi. Ich werde versuchen ...«
»Ich will nicht, dass du etwas versuchst, mein Junge. Ich will nur, dass du dir meine Frage anhörst. Dann horchst du in dich hinein. Und wenn du eine Antwort hörst, teilst du sie uns mit.«
»Aber ...«
»Pssst«, unterbrach sie ihn, »entspanne dich einfach! Als würdest du mit Rihscha fliegen. Also: Wovor hast du am meisten Angst?«
»Angst?«, platzte Alduin heraus.
»Pssst«, wiederholte sie. »Stelle dir die Frage selbst und lausche auf die Antwort!«
Im Raum wurde es völlig still. Alduin schloss die Augen, rief sich die Frage ins Gedächtnis und versuchte zu begreifen, was Madi Tarai von ihm verlangte. Und unvermittelt sprudelten die Worte aus seinem tiefsten Innern hoch.
»Meine größte Angst ist, der zu sein, der ich bin. All das zu sein, was ich bin. Es könnte mich überwältigen und mich weit von allen Menschen entfernen, die ich liebe, wie eine starke Flut, die mich in das Meer hinausspült, wo ich in der ungeheuren Unendlichkeit ertrinken würde.«
»Gut. Sehr gut«, murmelte Tarai träumerisch und brachte ihn damit wieder in die Gegenwart zurück. Mit völlig veränderter Stimme fuhr sie fort: »Das bedeutet, dass du zumindest deine Möglichkeiten erkennst, auch wenn du dich davor fürchtest, sie zu nutzen.« Tarais Stimme klang fest; offenbar hatte sie wieder auf »wach« umgeschaltet, wie Alduin es bei sich nannte.
Sie wandte sich an Aranthia. »Ich freue mich, dass du ein Kind mit Selbstvertrauen großgezogen hast. Andererseits hat er wohl dieselben Ängste entwickelt, die auch du immer empfunden hast. Meinst du nicht auch?«
Aranthia nickte und seufzte. »Dieselbe Angst, die mich damals aus Sanforan vertrieben hat«, sagte sie. »Aber vielleicht ist es noch nicht zu spät ...«
»Wir werden sehen. Jetzt müssen wir erst einmal herausfinden, worum es bei Alduins Geschichte eigentlich geht«, sagte Tarai und rollte das Pergament auf.
Sie blickte eine Weile angestrengt auf den Text, wobei sie die Augen zukniff und das vergilbte Stück schräg hielt, sodass mehr Licht vom Fenster darauf fallen konnte. Schließlich reichte sie das Pergament an Malnar weiter. »Die Schrift ist zu sehr verblasst und meine Augen sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren. Vielleicht kannst du es lesen.«
Der Mann betrachtete den Text eine Weile, bevor er antwortete. »Ja, die Schrift ist sehr verblichen und die Sprache sehr alt, aber ich werde versuchen wenigstens den Sinn wiederzugeben. Offenbar wird darin über ein Gespräch zwischen Emo und Gilian berichtet.«
Emo, Göttin und Jägerin, ging eines Tages in die Wälder, wo sie Gilian begegnete, dem Gott des Windes und der Luft, welcher der Sohn von dem die Vögel erschaffenden Callugar war und der Bruder Thorns. Als sie durch die dichten Wälder gingen, erzählte ihr Gilian von dem Geschenk, das die Elben jüngst den Völkern von Nymath gemacht hatten: einen Zaubernebel, der sie wie eine Wand vor ihren Feinden beschützen solle. Der Gott Gilian wurde besonders von den Raiden verehrt, dem einzigen Volk, das selbst Zauberkraft ererbt hatte, die es einigen von ihnen ermöglichte, durch die Augen ihrer Falken zu sehen. Gilian hielt deshalb das Elbengeschenk für bedeutsam. Emo jedoch dachte anders darüber. »Wie können die Elben es wagen, sich in die Angelegenheiten unserer Kinder einzumischen?«, fragte sie voller Zorn. »Kümmern wir uns denn nicht um sie, wenn sie unsere Hilfe ersuchen?« - »Ohne den Segen Asnars und Callugars wäre es ihnen nicht möglich gewesen«, entgegnete Gilian und versuchte sie zu besänftigen. »Und niemand von euch hat daran gedacht, mich in dieser Angelegenheit um Rat zu fragen?«, fragte Emo beharrlich. »Die Götter haben zugestimmt!«, entgegnete er und wurde nun selbst zornig. »Die Götter! Die Götter!«, rief Emo aus. »Ich bin die Göttin! Wer von euch kann das von sich behaupten?« - »Dann benimm dich wie eine Göttin und nicht wie ein verwöhntes Kind!«, gab Gilian scharf zurück. Der Gott und die Göttin starrten einander herausfordernd an, denn beide wollten das entscheidende letzte Wort behalten. Doch Gilian entspannte sich plötzlich und lächelte. »Emo, der Zaubernebel nützt allen. Warum lassen wir die Dinge nicht einfach, wie sie sind?« Emo erkannte, dass etwas, das getan worden war, nicht einfach rückgängig gemacht werden konnte, und nickte langsam; doch dann trat ein listiger Ausdruck in ihre hellen Augen. »Ja, aber
Weitere Kostenlose Bücher