Falkensaga 01 - Der Schrei des Falken
Falkenhaus.
10
Meister Calborth hatte nichts dagegen, dass Alduin von Malnar unterrichtet wurde. Er war sogar fast erleichtert, denn keiner in der Falknerei hatte Erfahrung mit dieser Art von Begabung, die sich bei Alduin offenbarte. Außerdem waren Madi Tarai und ihr Gehilfe in Sanforan hoch angesehen. Calborth stimmte auch zu, dass Alduin seine Bindung im Flug mit Rihscha fortsetzen dürfe - unter der Bedingung, dass stets jemand dabei war, für den Fall, dass er wieder die Kontrolle verlor. Inzwischen waren die meisten Jungfalkner so weit, dass sie ihre Vögel mehrmals täglich ins Freie brachten und sie auf kurze Flüge über die Stadt schickten. Alduin war also nie allein und wurde ohnehin gewöhnlich von Rael und Bardelph begleitet, spürte daher die Einschränkung gar nicht. Bisher waren seine Flüge mit Rihscha völlig normal verlaufen. Er hatte gelernt den Falken fliegen zu lassen und sich ihm zu jedem Zeitpunkt während des Fluges anzuschließen. Es war eine eigenartige Freude, die ihn erfüllte, wann immer seine Augen eins wurden mit denen von Rihscha: Der Anblick der Stadt aus der Luft, die Küste und die Ebene, die dahinter lag, die Fischerboote, die aufs Meer hinausfuhren, die vielen geschäftigen Menschen, die tief unten wie Ameisen über den Boden krochen.
Erst zwei Tage nach dem Gespräch mit Madi Tarai konnte er wieder in das Haus am Ende der steilen Gasse zurückkehren. Malnar öffnete die Tür, sichtlich erfreut ihn zu sehen.
»Alduin, schön, dass du hier bist. Ich hoffe, im Falkenhaus ist man mit unserer Vereinbarung einverstanden?«
»Ich glaube, sie sind ziemlich erleichtert«, meinte Alduin. »Sie tun alles, damit ich keine weiteren ... Zwischenfälle erlebe ...«
»Natürlich, natürlich! Das ist verständlich. Magst du nach oben gehen und Madi Tarai begrüßen? Danach komm in mein Zimmer! Du findest es unten an der Treppe.«
Alduin lief schnell hinauf, zwei Stufen auf einmal nehmend. Er freute sich die seltsame, verschrobene Frau wieder zu sehen. Doch schlief Tarai fest auf ihrer Bank, als er eintrat; so beschloss er sie nicht zu stören. Als er kurz darauf in Malnars Zimmer trat, fand er den Raum leer. Es überraschte ihn, wie unterschiedlich die beiden Räume eingerichtet waren. Schwere Vorhänge vor dem Fenster ließen nur einen winzigen Streifen Licht durch, kaum mehr als eine der vier Kerzen, die auf dem runden Tisch in der Mitte des Zimmers brannten. Die Sandsteinwände waren nicht verputzt und wirkten kahl - so stachen eine große Himmelskarte und ein Bild mit Symbolen, die Alduin fremd waren, umso mehr ins Auge. Das Kerzenlicht warf einen goldenen Schimmer über die rauen Steinwände und ließ den Raum warm wirken, der in Wirklichkeit recht kühl war. Unter dem Fenster standen verschiedene eindrucksvolle Truhen aufgereiht, während an der linken Wand ein langer Tisch mit kunstvoll geschnitzten Eichenstühlen auffiel. Auf dem Tisch lag eine Sammlung von Artefakten unterschiedlichster Größe und Art. Ganz rechts führte ein Durchgang zu einem Nebenzimmer, hinter dessen Vorhang soeben Malnar hervortrat.
Er lächelte Alduin zu. »Ein ziemlicher Unterschied zum Raum der Madi, nicht wahr? Aber ich finde, weniger Licht hilft das Bewusstsein zu öffnen und sich zu konzentrieren. Jeder hat eben seine eigenen Vorstellungen.«
Er schob zwei Stühle heran und lud Alduin ein sich zu setzen. »Möchtest du etwas Wasser trinken?«
»Nein danke.«
Malnar setzte sich neben ihn und strich seinen langen silbernen Bart über der Brust glatt. Dann legte er beide Hände flach auf den Tisch und klopfte mehrmals leicht auf die Tischplatte. Schließlich wandte er sich Alduin zu und blickte ihn mit seinen durchdringenden blauen Augen an. Sein Blick schien tief in Alduins Seele nach etwas zu suchen.
»Zunächst einmal möchte ich herausfinden, ob deine Visionen ganz spontan auftreten oder ob du sie selbst herbeiführen kannst - mit irgendeinem Mittel oder durch Trance«, erklärte er. »Keine Sorge, wir gehen ganz langsam vor. Kein Grund zur Eile. Also, schildere mir zuerst einmal, wann diese ungewöhnliche Erfahrung auftrat.«
Alduin war nicht besonders begierig darauf, alles noch einmal erzählen zu müssen, aber es war ihm klar, dass sich Malnar zunächst ein vollständiges Bild verschaffen musste. Er erzählte ihm alles - von dem Eindruck, dass die Falkenmutter zu ihm gesprochen habe, bis hin zu seinem Zusammenbruch vor der Stadtmauer. Malnar hörte ruhig und ohne Regung zu und
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