Falkensaga 01 - Der Schrei des Falken
Kopf.
»Heute nicht«, antwortete sie. »Heute haben wir noch etwas anderes zu erledigen.«
Ihr Ton gab ihm einen kleinen Hoffnungsschimmer. Es war, als habe sie eine wichtige Entscheidung getroffen und dränge nun ungeduldig darauf, sie sofort in die Tat umzusetzen.
»Was denn?«
»Ich habe zu viele Dinge zu lange hinausgezögert. Es war nicht richtig, dich so lange warten zu lassen, ohne einen Plan zu haben. Jetzt habe ich ihn endlich. Und heute gehen wir zu Tarai.«
»Tarai? Wer ist das?«
»Eine Hellseherin. Sie gehört zu den Onur. Hoffentlich lebt sie noch, und wenn - dann dürfte sie schon sehr alt sein. Sie führt den Titel einer Madi. Wenn man zu ihr spricht, nennt man sie Madi oder Madi Tarai. Als ich meine ersten Visionen hatte und von allen verstoßen wurde, ging ich zu ihr und sie wurde meine Lehrerin. Ihr Haus steht in der Nähe des Westtors.«
Aber dort wohnte sie nicht mehr. Als sie vor dem Haus standen, sahen sie an seinem zufallenen Zustand, dass darin niemand mehr wohnen konnte. Eine Nachbarin wies ihnen den Weg durch einen Torbogen in eine schmale, lange Gasse und erklärte, die alte Frau sei an das hinterste Ende auf der linken Seite gezogen.
Die Gasse verlief zunächst eben, doch dann stieg sie immer steiler an. Endlich standen sie vor dem letzten Haus: Kein Zweifel, dass darin ein sehr ungewöhnlicher Mensch lebte. Über der Tür hing ein rundes Holzschild, das mit drei goldenen Runen auf dunkelblauem Hintergrund bemalt war. Verschiedene Amulette hingen daran herunter. Alduin erkannte die Runen Ansuz, Raido und Perpro und glaubte die Bedeutung der drei Runen zu kennen.
»Inspiration ist der Weg zur verborgenen Weisheit ... oder so was Ähnliches«, sagte er.
»Das stimmt. Hat sie mir vor vielen Jahren selbst erklärt«, meinte Aranthia. Sie deutete auf die verschiedenen Gegenstände, die von dem Schild herunterhingen. »Die Federn sind ein Zeichen für Flug - aber hier bedeuten sie einen geistigen Höhenflug. Die kleinen Knochen sollen die Grundlage aller Dinge darstellen. Und der Kristall ist das Zeichen für die inneren Gaben.«
Sie lächelte bei der Erinnerung an die Frau, die ihr vor langer Zeit so sehr geholfen hatte. Sacht klopfte sie an die Tür. Sie wurde von einem großen, hageren Mann geöffnet, der einen braunen Kittel mit langen Ärmeln und hohem Kragen trug. Sein silbergraues Haar war sehr kurz geschnitten; am Kinn wuchs ihm ein sehr langer Bart, der bis zur Taille reichte. Er verbeugte sich leicht und bat sie mit einer Handbewegung herein.
»Madi Tarai erwartet Euch«, verkündete er zu ihrer Überraschung. »Bitte folgt mir!«
Er führte sie durch einen kurzen Flur über eine Wendeltreppe aus dunklem, glänzend poliertem Holz hinauf. Oben schob er einen Samtvorhang beiseite, der in einer Türöffnung hing, und bedeutete ihnen einzutreten; er selbst blieb mit verschränkten Armen wie eine Statue neben der Türöffnung stehen. Der Raum war überraschend hell: Ein riesiges Bogenfenster bot Ausblick über die Felsen.
»Aranthia, mein Mädchen, tritt näher. Lass dich anschauen! Wie groß du doch geworden bist! Und das ist dein Sohn? Wie gut er aussieht! Kommt näher, ihr beiden!«
»Madi Tarai, Ihr seht gut aus!«, rief Aranthia erfreut.
»Nun ja, immer noch am Leben, wie du sehen kannst, obwohl ich nach der Zahl der Winter eigentlich schon lange kein Recht mehr dazu hätte!«
Tarai saß auf einer geschwungenen Sitzbank in einer Ecke, umgeben von vielen gewebten Kissen. Sie legte ein aufgerolltes Pergament, das sie bis eben in den Händen gehalten hatte, beiseite, streckte Aranthia die Hände entgegen und umarmte sie liebevoll. Madi Tarai trug ein farbenfrohes kunterbuntes Kleid. Kristallperlen, kleine Federn und winzige Knochen waren in ein Netz gewoben, mit dem sie ihre dichte, von silbernen Strähnen durchzogene schwarze Haarmähne zu bändigen versuchte. Sie war recht mollig, aber ihre Hände waren schmal und feingliedrig, wie auch die Züge ihres alterslos wirkenden Gesichts. Alduin war noch nie einer so eindrucksvollen Person begegnet.
Sie gab Aranthia wieder frei und wandte sich zu ihm. »Gib mir einen Kuss, mein Junge!«
Er warf seiner Mutter einen verlegenen Blick zu, die ihm ermunternd zunickte, und hauchte Madi Tarai einen flüchtigen Kuss auf die Wange.
Sie kicherte wie ein kleines Mädchen. »Schon eine ganze Weile her, dass ich von einem so schönen jungen Mann geküsst worden bin!«, scherzte sie und wandte ihm die andere Wange zu.
Er grinste
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