Falkensaga 01 - Der Schrei des Falken
zugleich. »Was wäre, wenn ein paar Leute Angst hätten, dass du etwas vorhersehen könntest, was sie zu tun planen? Etwas, das schlecht für Nymath wäre?«
Dieser Gedanke ließ alle für eine Weile verstummen. Sie versuchten sich darüber klar zu werden, ob das der Grund für den Angriff auf Rihscha gewesen sein mochte.
»Aber wir haben doch auch andere Seher in Nymath. Der Rat befragt sie immer, wenn er wichtige Entscheidungen zu treffen hat. Jedem von ihnen könnten durch eine Vision solche Pläne verraten werden«, überlegte Silya.
»Madi Tarai zum Beispiel«, meinte Alduin, »und Malnar.«
»Wer ist das denn?«, wollte Rael wissen.
»Zwei Onur-Seher. Sie leben hier in Sanforan. Malnar will mir helfen meine Visionen zu beherrschen. Allerdings hat er bisher noch nicht viel Glück damit gehabt. In zwei Tagen gehe ich wieder zu ihm, dann kann ich ihn fragen, ob er sich irgendeinen Reim auf diese ganze Sache machen kann.«
»Gute Idee«, meinte Rael. »Mein armes Hirn kommt jedenfalls keinen Schritt mehr weiter. Das ist einfach zu viel für mich.«
Die anderen nickten und fielen heißhungrig über das Essen her, das eben aufgetragen wurde. Die geheimnisvolle Geschichte von Emo und Gilian hatte Alduin ihnen nicht erzählt, um nicht alles noch komplizierter zu machen. Und überhaupt wusste er ja selbst nicht, was sie bedeuten mochte. Schon die bloße Vorstellung widerstrebte ihm, dass die Götter mit alledem etwas zu tun haben könnten; es war ihm deshalb völlig unmöglich, mit den anderen darüber zu reden. Nicht einmal mit Erilea.
12
Zwei Tage später ging Alduin wie verabredet zu Malnar. Schon an der Tür fiel ihm auf, dass er immer noch erschöpft aussah und unglücklich wirkte, obwohl der Onur ihm versicherte, dass es ihm gut gehe; er habe nur schlecht geschlafen.
»Passiert mir immer, wenn die beiden Monde auf ihrer Frühsommerbahn an einem bestimmten Punkt stehen, und dieses Jahr ist es besonders schlimm, weil eine Finsternis bevorsteht. Wirklich sehr lästig, aber ich habe gelernt damit umzugehen, was kann schon dagegen tun? Ich danke dir, aber mach dir bitte keine Sorgen!« Die Worte sprudelten fast aus Malnar heraus. »Oh, übrigens, Madi Tarai möchte dich jetzt gleich sehen ... Ich bereite inzwischen in meinem Zimmer alles für den Unterricht vor.«
Alduin stieg die Wendeltreppe hinauf. Er freute sich, dass er die farbenfrohe und ungewöhnliche Onur-Frau wieder sehen durfte.
Sie saß wieder in derselben Haltung auf ihrer Sitzbank wie bei seinen vorherigen Besuchen. Er fragte sich, ob sie diese Bank überhaupt jemals verließ.
»Alduin, mein Kind, ich bin so froh dich wieder zu sehen. Malnar hat mir schon erzählt, was passiert ist. Furchtbar! Ich bin besonders unglücklich darüber, weil ich keine Vorahnung hatte und dich deshalb nicht warnen konnte. Manchmal fragt man sich wirklich, wozu das zweite Gesicht gut sein soll ... Aber das ist Unsinn, nicht wahr? Schließlich hat es sich so viele Male als nützlich erwiesen. Komm, gib mir einen Kuss!«
Alduin grinste und pflanzte ihr einen Kuss auf jede Wange. Sie kicherte vergnügt.
»Danke, mein Lieber! Du schaffst es immer, einer alten Frau den Tag zu verschönern, das kann ich dir sagen. Malnar scheint jeden Tag sauertöpfischer zu werden.«
»Er hat mir erzählt, dass er zurzeit nicht besonders gut schläft.«
»Das stimmt. Die ganze Nacht schleicht er im Haus herum wie ein Raubtier im Käfig. Das ist schon öfter so gewesen, es wird sich irgendwann wieder legen. Aber jetzt bist du ja zu Besuch hier, und das ist eine nette Abwechslung.«
»Geht es Euch gut?«, fragte Alduin.
»Oh ja, sehr gut, ich platze schier vor Lebenslust!« Die alte Frau grinste wie ein freches, kleines Kind. »Und heute habe ich sogar ein paar Neuigkeiten für dich. Es mag dir nicht wichtig erscheinen, aber es bestätigt noch einmal, dass die Sage von Elmo und Gilian etwas mit dir zu tun hat.«
»Wieso?«
»Mir ist klar geworden, was der Pfeil bedeutet!«, verkündete sie stolz.
»Was denn?«, fragte er drängend, als sie nicht fortfuhr.
»Willst du damit sagen, dass du es nicht schon selbst herausgefunden hast?«, fragte sie zurück und in ihrer Stimme klang leichte Enttäuschung mit.
Alduin schüttelte bedauernd den Kopf.
»Erinnerst du dich an die Frage, was dir am meisten Angst bereitet? Der zu sein, der du bist. Das hast du gesagt, weißt du noch?«
Alduin nickte, obwohl er keine Ahnung hatte, was das mit dem Pfeil zu tun hatte.
Madi Tarai
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