Falkensaga 02 - Im Auge des Falken
zuredete, so ermutigend Rihscha ihm zurief, er bewegte sich keinen Schritt vor und keinen zurück. Alduin band ihn wieder fest und lief zurück.
»Ganz gewiss weiß der Kataure, wie's geht«, meinte Bardelph. »Katauren kennen ihre Pferde besser als jeder andere.«
»Junge, für den Hengst bist du eben ein Fremder«, sagte Cardol. »Er weiß nicht, ob er dir vertrauen kann. Doch wart nur ab! Sobald ich ihn rufe, wird er die Brücke überqueren. Ihr müsst mir aufhelfen.«
Aranthia hatte gerade seinen Fuß verbunden und ging einen Schritt zur Seite, damit Bardelph ihn stützen konnte. Endlich hatte sie Gelegenheit, ihren Sohn zu begrüßen. Es bedurfte keiner Worte, als sie ihn in die Arme schloss. Mit Stolz nahm sie wahr, dass er nun schon größer war als sie, und schmunzelnd spürte sie, wie der erste Flaum ihre Wange kitzelte. Ihr Sohn war zu einem jungen Mann herangewachsen.
Mit einem Seufzer löste sie sich aus der Umarmung, nahm ihn an die Hand, und beide folgten den Männern den Ziegenpfad nach oben. Cardol tätschelte zunächst liebevoll Fea Lome, dann hüpfte er auf seinem heilen Fuß herum und wandte sich an Alduin.
»Bring Nachteule noch einmal zur Brücke«, sagte er. »Sobald ihr nahe genug seid, werde ich den Hengst rufen.«
Alduin lief zurück und führte die widerspenstige Nachteule wieder zum Rand des Abgrunds. Abermals weigerte sich das Tier störrisch, auch nur einen Zoll weiterzugehen.
Plötzlich klang ein höchst sonderbarer Laut über die Schlucht. Es war eine Mischung aus Lied und Ruf, eine gespenstische Melodie, gewoben aus einzelnen Silben, die sich jedoch nicht zu verständlichen Worten zusammenfügten. Die Klangfarbe wechselte zwischen tief zu hoch, zwischen hell und dunkel. Der Hengst stellte die Ohren auf und richtete den Blick nach vorn. Zu Alduins großer Überraschung setzte er seinen Huf auf die Brücke und überquerte mit schwankenden Schritten den Abgrund.
Cardols wundersamer Ruf verstärkte sich, hallte weiter durch die Luft und leitete das Pferd sicher auf die andere Seite. Schließlich humpelte der Kataure mit Bardelphs Hilfe seinem Hengst entgegen, schlang die Arme liebevoll um seinen Hals und sang ihm leise ins Ohr.
»Hallo, mein Schöner. Hier bin ich. Jetzt wird alles gut«, murmelte er und drehte sich zu Bardelph. »Wenn Ihr ihn sattelt und mir beim Aufsteigen helft, kann ich reiten, und wir brauchen keine Trage mehr.«
Aranthia nickte zustimmend. »Ich denke, Ihr habt recht. Wahrscheinlich ist das sogar bequemer für Euch, und Ihr müsst den Fuß nicht belasten.«
Sie sattelten und beluden die Tiere. Mit viel Kraft und dem einen oder anderen Fluch wurde Cardol auf Nachteule gehievt. Aranthia hatte eine Schlinge um den Hals des Hengstes gelegt, damit der Kataure seinen verletzten Fuß stützen konnte.
Alduin schwang sich mit einem geschickten Satz auf Fea Lome und genoss dabei den stolzen Blick seiner Mutter. Rihscha ließ sich gemütlich vor ihm nieder.
So ritten sie den Weg entlang zwischen Büschen und Bäumen und kamen in der Dunkelheit nur sehr langsam voran. Verschlungenes Wurzelwerk, lose Steine und Äste wurden für sie immer wieder zu Stolperfallen. Noch ein weiteres Unglück konnten sie sich nicht leisten.
Die mondlose Nacht verhüllte den Wald in einer Samtdecke. Der Zweiertakt der Hufe im Sand, das Klirren des Zaumzeugs und das gelegentliche Schnauben eines Pferdes verliehen dem Ritt eine geheimnisvolle Stimmung. Schließlich erkannte Alduin zwischen den Bäumen den Umriss des kleinen Holzhauses. Mit einem Mal Überwältigte ihn eine Sehnsucht, die ihn erschaudern ließ: Eine stille Vertrautheit umfasste ihn und trug ihn zurück in längst vergangene Zeiten. Eigenartig, dass ihn der Weg auf all seinen Reisen nie wieder in diese Gegend geführt hatte. Er, der Junge von einst, war kaum mehr als eine Erinnerung. Wie schnell doch die Zeit, die er damals so bewusst gelegt hatte, vergangen war, eine Zeit, die ihm jetzt vorkam wie ein Traum - ein Traum, aus dem er ganz plötzlich erwacht war, als er den Bund mit Rihscha einging und zum jungen Mann wurde.
Cardol fiel erschöpft in den Schaukelstuhl neben dem Kamin, seinen Fuß legte er auf einen Hocker. Aranthia schürte das Feuer, Bardelph und Alduin kümmerten sich hinter dem Haus um die Tiere. Während sie den Esel und die beiden Pferde fütterten und tränkten, wollte Alduin alles wissen, was sich seit ihrer letzten Begegnung zugetragen hatte.
»Dieses Jahr sind in der Bruthalle nur wenige
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