Falkensaga 02 - Im Auge des Falken
obwohl er sich in sicherer Umgebung fühlte. Kurz darauf verblasste das Gefühl, doch dann kehrte es umso eindringlicher zurück. Er schnellte in die Luft, nahm die Witterung auf und flog mit mächtigen Schwingenschlägen zum Fluss, um dem verzweifelten inneren Ruf zu folgen. Noch während er durch die Lüfte glitt, verblasste das Gefühl wieder.
Cardol fuhr ruckartig aus dem Schlaf. Der Stand der Sonne, die durch das Fenster schien, verriet ihm, dass er einen Großteil des Tages verschlafen haben musste. Sein Magen knurrte. Er griff nach dem Becher neben dem Schaukelstuhl und trank den kalten Calba bis zur Neige.
»Pah ...! Gibt es denn in diesem Haus nichts Anständiges zu saufen?«, schimpfte er.
Jetzt, nachdem die Wirkung des Jatamansi wieder nachgelassen hatte, der ihn in den Schlaf versetzt hatte, spürte er die Schmerzen in seinem verletzten Fuß wieder. Und das machte seine Laune nicht besser.
»Alduin!«, rief er gereizt. »Alduin, wo steckst du?«
Draußen hörte er Nachteule wiehern.
Wo sich der Junge wohl rumtreibt? Cardol stieß einen leisen Fluch aus und griff nach dem Krückstock, den Aranthia in Reichweite gestellt hatte. Mit einem Ächzen hievte er sich hoch, humpelte zur Tür hinüber und stieß sie auf. Warme Luft drang ihm entgegen. Die Lichtung vor dem Haus lag zu einem großen Teil im Schatten der dichten Bäume, die das Nachmittagslicht abschirmten.
»Alduin!«, brüllte er. Doch wieder antwortete nur Nachteule hinter der Hütte mit einem kräftigen Wiehern.
»Zu dir komme ich auch gleich«, versuchte er den Hengst zu beruhigen. »Ob du vielleicht weißt, wo er steckt?«, murmelte er in sich hinein, als könnte ihm das Tier tatsächlich eine Antwort geben.
Cardol schaute zurück in den Raum und sah sich suchend um. Alles schien unverändert, seit er den Jungen hier das letzte Mal gesehen hatte. Nur das Feuer im Kamin war erloschen.
Das passte so gar nicht in das Bild, das er sich von dem jungen Falkner gemacht hatte - und er rühmte sich eines guten Urteilsvermögens, nicht nur was Pferde anging, sondern auch Menschen. Ganz gewiss hätte er ihn in seiner Hilflosigkeit hier nicht allein gelassen. Cardol suchte nach einer Erklärung, und mit einem Mal hatte er ein üble Vorahnung. Vielleicht war der Junge ausgeritten und gar gestürzt - schließlich war er kein besonders erfahrener Reiter. Cardol nahm alle Kraft zusammen, stützte sein Gewicht auf den Stock und kämpfte sich auf dem holprigen Weg Schritt für Schritt hinter die Hütte. Doch auch Fea Lome stand friedlich im Stroh - Alduin war also nicht ausgeritten. Der Kataure tätschelte die beiden Pferde, flüsterte ihnen ein paar freundliche Worte zu und band sie los. Zielstrebig trabten sie über die Lichtung zum Waldrand und blieben schon gleich mit den Mäulern tief im saftigen Gras stehen.
Nachdem Cardol sie für eine Weile beobachtet hatte, machte er kehrt und humpelte mühsam zum Fluss hinunter. Er sah Alduins Kleider auf der Bank, doch von dem Jungen war weit und breit keine Spur. Jetzt ahnte er, was geschehen sein konnte. Und er wusste, dass es nicht gut war.
Bardelph und Aranthia hatten auf lange Ruhepausen verzichtet und erreichten daher Sanforan schon nach zwei Tagen, kurz bevor die Haupttore für die Nacht geschlossen wurden.
Die beiden mieteten ein kleines Zimmer in der Herberge, und trotz der Müdigkeit machten sie sich sogleich auf den Weg in die Falkenhalle. Sie fanden Calborth im Speisesaal beim Abendbrot und begrüßten ihn herzlich.
»Ich hatte noch gar nicht mit euch gerechnet. Alduin hat wahrlich keine Zeit vergeudet. Aber gut, dass ihr hier seid.«
Den beiden fiel auf, wie erschöpft der alte Falkner wirkte.
»Was ist mit Euch, Meister Calborth?«, wollte Aranthia wissen.
Der alte Mann seufzte und mühte sich um ein Lächeln.
»Nichts Ernstes«, versicherte er den beiden. »Ich schlafe nur so schlecht in der letzten Zeit. Aber nun, da ihr hier seid, kann sich das ja vielleicht ändern.«
»Ist es etwa Cal, der Euch die schlaflosen Nächte bereitet?«, fragte Aranthia besorgt.
Der Meister nickte.
»Tagsüber gelingt es mir, mich abzulenken, selbst wenn es in der Halle so still ist wie jetzt. Doch wenn ich dann im Bett liege ...«
»Hat sich sein Zustand verändert?«
Calborth bedachte sie mit einem niedergeschlagenen Blick und schüttelte den Kopf.
»Aber?« Aranthia ermunterte ihn, mehr zu sagen.
Der alte Mann straffte die Schultern, als wollte er jedem trotzen, der es wagen
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