Falkensaga 02 - Im Auge des Falken
... Während er entlang der Felswand hinabstieß, beobachtete er, wie sich eine Welle auftürmte. Sie peitschte gegen den Fuß der Klippe und spritzte als Gischtschauer empor ... Gerade noch rechtzeitig zog er hoch und änderte den Kurs, weit über die Wogen des Ozeans hinaus, die nach ihm haschten. Er liebte dieses Spiel ...
Als er geschwächt am nächsten Morgen erwachte, hatte er den Traum noch lebhaft in Erinnerung. Er wandte sich dem Falken zu, der immer noch neben ihm hockte, und blickte ihm eindringlich in die Augen.
»Wer bist du? Was willst du von mir?«, fragte er.
Rihscha.
Bereits zum zweiten Mal hörte er diesen fremden Namen, und es war sein eigener Verstand, der ihn einflüsterte.
»Rihscha? Ist das dein Name? Oder ist es mein Name?«, wollte er wissen, als wäre es ganz selbstverständlich, mit einem Vogel zu sprechen. »Oder haben wir am Ende beide denselben Namen?«
So seltsam die Vermutung auch war, so schien sie doch nicht fern. Das Knurren in seinem Magen lenkte ihn von seinen Gedanken ab. »Ich bin sehr hungrig, könntest du noch eine dieser Waldtauben jagen? Ich mache ein Feuer.«
Zu seiner Überraschung flog der Falke aus dem Unterschlupf und hechtete in die Luft. Als der junge Mann aufstehen wollte, um noch einmal Äste, Zweige und trockene Grasbüschel zu suchen, überkam ihn ein plötzlicher Schwindel. Sein Blick verschwamm. Er hatte das Gefühl, etwas wolle sich in seinen Verstand drängen - etwas, was ihm bedrohlich erschien, aber dennoch mit unbändiger Neugierde erfüllte. Er zögerte, doch dann gab er dem Gefühl nach.
... der Falke raste auf ein kleines Gehölz zu in der Hoffnung, dort Beute zu machen ... Er spürte die Gegenwart seines Gefährten und hieß ihn willkommen. Alduin! Wir sind wieder vereint ... Plötzlich brach ein Schwärm Stare aus den Bäumen hervor ... Mit tödlicher Zielstrebigkeit jagte der Falke auf sie zu ... schnappte erst einen, dann einen zweiten aus der Luft und brach ihnen das Rückgrat ... Mit einem Opfer in jeder Klaue machte er jäh kehrt und flog zurück ...
Als der Falke mit seiner Beute durch den schmalen Eingang flog, sah der junge Mann auf. Sein Blick wurde wieder klar.
»Mein Name ist Alduin, und du bist Rihscha«, sagte er voller Erstaunen.« Irgendwie bin ich mit dir geflogen. Ich konnte durch deine Augen sehen. Ich habe gespürt, wie dich die Jagdlust gepackt hat. Ich ...«
Ohne den Satz zu beenden, verstummte er wieder und blickte den Falken verwundert an.
»Woher kommen wir?«
5
Erilea stand nicht weit von ihrem bescheidenen Unterschlupf entfernt. Sie überlegte einen Moment und lief dann zum Bach nahe dem Waldrand. Hier gingen die Bäume in einen breiten Streifen Grasland über, das sich zwischen dem Mangipohr im Osten und dem Meer im Westen erstreckte. Die Ebene reichte bis weit in den Norden, wo niedrige Vulkanberge sie begrenzten. Weit dahinter konnte Erilea gerade noch die höchsten Gipfel des Pandarasgebirges erahnen.
Sie drehte sich der aufgehenden Sonne zu. Sie hatte aufgehört, die Tage zu zählen, seit sie die Arekkatze verwundet und ihr Parna begonnen hatte. Das Parna war geprägt von vielfältigen, traditionellen Ritualen mit fest vorgegebenen Rhythmen. Den jungen Wunand-Amazonen war auf diesem besonderen Weg ins Erwachsenenleben aber auch freie Entscheidung für selbst erwählte Rituale gegeben. Eines davon war Erileas Morgenritual. So schloss sie die Augen, richtete sich auf und ließ ihre Arme locker herunterbaumeln. Sie lenkte ihr Bewusstsein auf die sanften Strahlen der Sonne, die ihr Gesicht umspielten, und lud dazu ein, ihre Haut und Knochen zu durchdringen, ihren Verstand mit Licht zu erfüllen und auf diese Weise alle üblen Gedanken zu verbrennen. Als die Sonne höherkletterte, kroch ihr Schein vom Kopf bis zu den Füßen. Erneut lud sie die Strahlen ein, ihr gesamtes Wesen zu reinigen. Langsam hob sie die Arme und sandte ein Gebet zu Emo. Sie bat die Göttin um ihren Segen, ihren Schutz und ihr Geleit durch den neuen Tag. Nacheinander rief sie sich die Menschen ins Bewusstsein, die ihr lieb und teuer waren, und ersuchte die Göttin, sie zu beschützen. Dabei klang in ihrem Innersten hell wie eine Glocke der Name Alduin. Auch wenn er sich scheinbar von ihr entfernt hatte, so war er doch ihrem Herzen so nah wie je zuvor. Nachdem sie Emo um Erlaubnis gefragt hatte, sandte sie ein weiteres Gebet an Gilian, den Gott, dem die Raidenfalkner huldigten. Ihn bat sie, ihren Freund zu beschützen. Da
Weitere Kostenlose Bücher