Falkensaga 02 - Im Auge des Falken
Stück.
In dieser Nacht schlief Rael unruhig. Er träumte, dass er Erilea und Alduin endlich gefunden hatte, doch als er sie ansprechen wollte, verwandelten sich ihre Gesichter in das von Bretta und Lurd. Verstört und zerschlagen, erwachte er bei Tagesanbruch, kroch aus dem Unterschlupf und nahm Verbindung mit Sivella auf, um Trost und Ablenkung zu suchen. Sie spielte müßig in der Brise und flog breite Schleifen über dem kleinen Wald, während die ersten Strahlen der frühen Sonne auf ihrem Gefieder glänzten. Kurz darauf landete sie auf Raels gestreckter Faust.
»Hast du eine Ahnung, wo Erilea sein könnte?«, fragte er sie, streichelte ihre Brust mit dem Finger und gähnte gleichzeitig.
Der Falke reagierte nicht auf seine Frage und schloss stattdessen die Augen, um die Liebkosung zu genießen. Rael lachte. »Tja, wir haben bereits einen weiten Weg zurückgelegt. Jetzt sollten wir weitersuchen. Wahrscheinlich ist Erilea nicht weit weg von hier. Ich schlage vor, du besorgst dir ein bescheidenes Frühstück, fliegst dann nordwärts und suchst das offene Gelände der Ebene nach ihr ab. Wenn wir sie dort nicht finden, müssen wir uns nach Süden wenden.«
Auch Erileas Nacht war unruhig und ausgesprochen unbequem gewesen. Sie hatte beschlossen, unter dem breiten Geäst eines allein stehenden Purkabaumes zu schlafen, stellte aber schon sehr bald fest, dass der Boden viel zu nass war. So entschied sie sich, auf einen der unteren Äste zu klettern. Dicht am Stamm war der Baum breit und bot genug Platz, sich hinzukauern, wenngleich auch nicht sehr viel. Daher war sie immer wieder erschrocken aufgewacht, als sie im Schlaf seitwärtsgerutscht war.
Mit trüben Augen begrüßte sie den neuen Tag. Nebelschwaden stiegen von der feuchten Erde empor, als die Morgensonne sie erwärmte. Es schien ihr, als würden sie sich genauso in Luft auflösen wie die Zuversicht, die sie noch in der Nacht zuvor verspürt hatte. Vielleicht war es gar keine so gute Idee, den Vulkan aufzusuchen, vielleicht sogar nicht nur unverantwortlich, sondern auch ausgesprochen dumm, ihr Vorhaben ohne Proviant und Ausrüstung fortzusetzen.
Die junge Amazone kletterte vom Baum herunter. Die Zeit für ihr Morgenritual war bereits verstrichen, und plötzlich wuchs das Gefühl in ihr, versagt zu haben.
Der streng geordnete Tagesablauf ihres Parna war genauso in sich zusammengebrochen wie der Steilhang. Haltlos trieb sie in einem Meer widerstreitender Gefühle. Alles war doch nur Brauchtum vergangener Zeiten, das die Frauen der meisten Wunand-Stämme schon längst abgelegt hatten. Sicher hätten sie auch ohne das Parna ihre Fähigkeiten als Amazonen nicht eingebüßt. Und schließlich hatte es nichts mit der Geschicklichkeit im Umgang mit Waffen oder gar mit Ausdauer im Kampf zu tun. Was konnten all das Fasten, all die Gebete und Rituale ihr für die Zukunft bringen? Vielleicht gar nichts Nützliches.
Erilea blickte nach Osten in die Sonne. Unwillkürlich schloss sie die Augen und hob die Arme. Und je länger sie so dastand, desto ruhiger wurde sie. Eine unendliche Gelassenheit umfing sie, und aller Unmut war mit einem Mal verflogen. Nein - die Tage mit Elin waren nicht vergeudet gewesen. Sie war mit der Natur im Einklang gewesen und hatte ein völlig neues Bewusstsein kennengelernt. Sogar das Fasten war für sie eine Erfahrung gewesen.
Erilea horchte lange in sich hinein, und plötzlich wurde ihr bewusst, dass die Zeit gekommen war umzukehren. Es gab keine feste Regel, wie lange ein Parna dauern sollte. Vielmehr teilte es sich einem mit, wann die Selbstfindung ihr Ende gefunden hatte.
»Geist des Morgens, ich grüße dich«, sprach sie. »Möge dein Licht mich durch den Tag geleiten; das Licht, von dem ich weiß, dass es da ist, auch wenn Stürme mein Leben mit Dunkelheit erfüllen; das Licht, von dem ich weiß, dass es scheint und sich in den Sternen widerspiegelt, auch wenn die Nacht hereinbricht. Möge die Freude deines Daseins mein Wesen erfüllen. Möge sie mein Sehen, mein Hören, mein Sprechen begleiten, auf dass deine Anmut auf meine Wahrnehmung, auf mein Verständnis, meine Gedanken und meine Worte abfärbt.«
Erilea hob beide Arme an die Brust, verneigte sich und sprach ein letztes Wort, bevor sie sich nach Norden abwandte.
»Emo!«
Erilea öffnete die Augen, und ihr Blick suchte den fernen Berg, den sie hatte erreichen wollen. Sie verspürte keine Reue. Sie hatte ihre Entscheidung getroffen.
»Geist der Erde, ich verehre
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