Falkensaga 02 - Im Auge des Falken
dich. Selbst wenn dein Herz schlummert, ist sein Schlag stetig und rein. Es gibt keinen Ort, an dem es nicht zu hören ist, wenn man aufmerksam zu lauschen versteht. Möge mein Wesen stets in Einklang sein mit seinem Puls, auf dass ich standhaft in meiner Überzeugung und in meinem Glauben bleiben möge. Emo!«
Abermals verneigte Erilea sich und drehte sich anschließend nach Westen.
»Geist des Abends, durch dich lerne ich, loszulassen und die Zyklen des Lebens hinzunehmen. Mein Bestreben, meine Wünsche und Pläne können deiner Macht niemals ebenbürtig sein. Möge ich lernen, deine Weisheit anzunehmen, selbst wenn mein Herz und mein Verstand aufbegehren. Möge die Schönheit deines Aufbruchs mich ob des Wissens, dass alles vergeht und in neuer Form wiedergeboren wird, mit Hoffnung statt mit Verzweiflung erfüllen. Emo!«
Zu guter Letzt drehte Erilea sich nach Süden und öffnete weit die Augen und Arme.
»Geist der Zukunft, ich umarme dich. Möge ich jede Gabe, die du mir bescherst, mit offenen Augen und reinem Herzen annehmen. Lass mich nicht urteilen über Oberflächlichkeiten, sondern das erblicken, was dahinterliegt, um es als das zu preisen, was es wahrhaftig ist. Alles besteht in diesem gegenwärtigen Augenblick in Vollkommenheit. Emo! Ich danke dir.«
Viele Herzschläge lang blieb Erilea reglos wie eine Statue im dichten Gras stehen, erfüllt von einer überwältigenden Kraft, die sie bisher nicht kannte. Und so stand sie auch noch, als Sivella sie fand.
8
Jeden Morgen, wenn Alduin erwachte, standen Essen und Trinken neben ihm auf dem Boden. Manchmal saß Rihscha an der Kante seiner Pritsche, die geduldigen Augen eindringlich auf sein Gesicht gerichtet. Andere Male flogen sie gemeinsam, erkundeten die unmittelbare Umgebung, beobachteten aus der Ferne die Fischersleute und jagten. Die geheimnisvolle Erscheinung hatte sich ihm nicht mehr wieder gezeigt. Doch am Fußende seiner Schlafpritsche war saubere Kleidung zurückgelassen worden, sein schweißgetränktes Laken war gewechselt und seine Schulter frisch verbunden worden.
Alduin war mittlerweile klar, dass seine Mutter und seine Freunde gewiss außer sich vor Sorge sein mussten. Doch fehlte es ihm an Kraft, den Weg nach Osten anzutreten. Rihscha wich ihm nicht von der Seite, so konnte er auch ihn nicht mit einer Botschaft schicken.
»Ich dachte, ich hätte hier das Sagen«, schimpfte er mit dem Falken, als er endlich in der Lage war aufzustehen und seine Stimme wieder etwas von ihrer früheren Entschlossenheit zurückgewonnen hatte. »Wenn ich dir sage, du sollst nach Sanforan fliegen, dann solltest du das eigentlich auch tun!«
Rihscha zeigte sich ungerührt, und Alduin wusste, dass er tief in seinem Innersten dankbar für die Gegenwart und Standhaftigkeit des Falken war.
»Was würde ich nur ohne dich tun?«, fragte er voller Zuneigung. »Von allen Falken Nymaths bist du bestimmt der treuste. Und der klügste!«
Plötzlich überfluteten ihn Erinnerungen an Cal und Krath. Hatte er es nur geträumt, oder hatte der Bund mit Rihscha ihn tatsächlich in die Vergangenheit versetzt? War die Reise seines Vaters nur ein wirrer Fiebertraum gewesen?
Mit einem Mal überkam ihn das dringende Bedürfnis, nach Sanforan zurückzukehren, um herauszufinden, was dort vor sich ging. Wieder beschlich ihn das Gefühl, dass er in einem Strom unkontrollierbarer Ereignisse gefangen war. Er durfte sich nicht länger treiben lassen, musste alles selbst in die Hand nehmen.
»Rihscha, wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Wir brechen auf, sobald wir können«, sagte er. »Aber zuerst muss ich mich bei den Dorfbewohnern bedanken. Ohne sie wäre ich jetzt sicher nicht mehr am Leben.«
Aus seinen Flügen mit Rihscha war ihm die Gegend bereits vertraut. Er wusste, dass er sich wohl in einer Höhle südlich des Dorfes aufhalten musste. Wenngleich die Bewohner nach dem Beben in wilder Eile geflohen waren, so waren sie doch wieder zurückgekehrt, nachdem der Berg sich beruhigt hatte.
So hatten Rihscha und er einige wenige Male aus luftiger Höhe beobachtet, wie sie den schmalen Pfad zu seiner Höhle erklommen hatten, um ihn zu versorgen. Die greise Erscheinung war jedoch nicht unter ihnen, aber er nahm an, dass die Fischersleute ihm den Weg zu der Hütte des Alten weisen könnten.
Er zog die neuen Kleider an und freute sich darüber, wie gut sie passten. Man hatte ihm einen Lederbeutel zurückgelassen mit einem Jagdmesser, einem leeren Wasserbeutel und zu seiner
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