Falkenschwur: Die Fortsetzung des Bestsellers »Pestsiegel« (German Edition)
Schluck, ehe er sich an mich wandte. »Und Ihr. Ihr, Sir. Wer hat Euch hereingelassen? Habt Euch hereingemogelt, was?« Ich hätte schwören können, dass er mit der rechten Hand, die auf dem Laken herumtastete, unwillkürlich nach der dritten Schublade in seinem Schreibtisch suchte, meiner Schublade. »Ihr bekommt nichts, wisst Ihr das? Nichts!«
Ich sprang auf. »Ich will überhaupt nichts. Ich wollte nie etwas. Wie oft habe ich Euch das gesagt, und allen anderen auch, aber niemand hat mir je geglaubt.«
Er ließ ein kurzes, ungläubiges Lachen hören. »Nichts?«
»Ihr habt mir alles gegeben, was ich jemals wollte, als Ihr mich vom Hafen weggeholt habt. Ihr habt mir eine Chance gegeben.« Ich wandte mich zum Gehen.
»Wartet.« Eine Andeutung von Skepsis hatte sich in seine Stimme geschlichen. »Ihr meint … Ihr seid nur gekommen, um … um mich zu sehen?«
Ich sagte nichts. Was hätte ich sagen können? Wie konnte ich diesen Ausdruck in seinem Blick zerstören? Er war genau wie der erste Blick, den er mir je geschenkt hatte. Das Stärkungsmittel, das er in der Hand hielt, tropfte auf die Laken. Ich nahm ihm das Glas aus der Hand. »London Treacle«, sagte er plötzlich. »Weißt du noch?«
Ich nickte. London Treacle war der Trunk, den er mir gegeben hatte, als er mich als kleinen Jungen zum ersten Mal gesehen hatte. Damals hatte ich mich gerade am Hafen mit Teer verbrannt. Alle übrigen im Raum Anwesenden schienen in dem weichen Kerzenlicht zu verschwinden. Einen Augenblick lang waren wir allein im Poplar meiner Kindheit, in der Hütte des Schiffszimmerers, ich, der ich nicht wusste, ob ich wachte oder träumte, und er mit diesem Blick, besorgt im einen und arglistig im nächsten Moment.
»London Treacle.« Seine Augen glänzten. »Jetzt …« Er begann zu lachen. Er versuchte zu sprechen, aber die Worte gingen in dem prustenden Gelächter unter. Es schüttelte ihn so heftig, dass das gesamte Bett erbebte. Erneut begann er zu husten. Ich hielt ihm den Stärkungstrunk an die Lippen. Er nahm einen Schluck, hustete, und das meiste davon landete auf mir. »London Treacle. Und jetzt gebt Ihr ihn mir.« Er stieß den Trunk beiseite. »Genug!« Er wischte die Augen aus und schnäuzte sich in einen Zipfel des Lakens.
»Priester! Wo ist dieser erbärmliche Priester?«
»Hier, Mylord.«
»Hat Jesus nicht gesagt: Die Ersten werden die Letzten sein und die Letzten die Ersten?«
»So ist es, Mylord, aber …«
»Ich habe es nie zuvor begriffen, nie.« Seine bleichen Wangen hatten wieder Farbe bekommen. Mühsam richtete er sich höher auf, er zuckte zusammen, doch der Schmerz schien nur seine Wut anzustacheln und seine Kraft zu befeuern. »Hanmer! Hanmer! Wo ist dieser betrügerische Advokat?«
Der Priester beugte sich flehend über ihn. »Mylord, Ihr seid nicht Ihr selbst. Ihr müsst alle irdischen Dinge aufgeben …«
»Aufgeben und der Kirche überlassen, meint Ihr? Ich war schon viel zu großzügig. Nicht ich selbst? In meinem ganzen Leben bin ich nie so sehr ich selbst gewesen. Mehr Licht! Mehr Licht!«, rief er einem Diener zu.
Im Zimmer entstand ein gedämpfter Tumult. Hanmer kam humpelnd auf die Beine, Bedienstete beeilten sich, Kerzen zu bringen, und Dr. Latchford starrte durch seine zerbrochene Brille.
Der Schein der frischen Kerzen drängte die Schatten zurück, verstärkte den schweißfeuchten Schimmer auf Lord Stonehouse’ Gesicht und den fiebrigen, frohlockenden Glanz in seinen Augen. »Bewegt Euch, Hanmer. Wir haben alle Gicht, aber wir lassen andere Leute nicht darunter leiden. Eilt Euch!«
Der Priester rang unablässig die Hände. »Das ist mehr als unrecht, ist gegen Gottes Gesetz, zu diesem Zeitpunkt, vor der Familie!«
»Auf dieser Seite der Welt bin ich das Gesetz.«
Die Stimme des Priesters wurde härter. »Mylord, Ihr seid kurz davor, vor Euren Schöpfer zu treten.«
»Ihr habt doch darum gebetet, dass er mich zu sich nimmt, oder?«
»Ja, Mylord, aber …«
»Er hat Eure Gebete erhört. Mr Cole! Stift. Papier. Bewegt Euch, Mann! Hanmer!« Unvermittelt kniff er bei einem Schmerzanfall die Augen zusammen, die Haut wurde runzelig wie bei einem verfaulten Apfel. Dr. Latchford wollte zu ihm eilen, wurde indes von einer erbosten Geste aufgehalten. Niemand rührte sich. Das einzige Geräusch war der angestrengte, kratzige Atem des alten Mannes. Als seine Atemzüge wieder regelmäßiger wurden, fuhr er fort, als sei nichts geschehen. »Hanmer, da war doch diese raffinierte
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