Falkenschwur: Die Fortsetzung des Bestsellers »Pestsiegel« (German Edition)
alles beigebracht, was ich weiß … Nun, nicht gerade alles«, hatte er gesagt.
Ich ließ den Kopf auf die Hände sinken. Nicht gerade alles. Ich sah die Waffe, den polierten Lauf, das röhrenförmige Visier. Jetzt war ich sicher, so sicher, wie ich mir einer Sache nur sein konnte, dass er zusammen mit Bennet irgendwo auf der Themse in einem Boot saß, das sie mit der Flut zum König brachte, den sie töten würden.
»Tom … ich habe gehört, Ihr habt gute Nachrichten für uns.«
Zu einem anderen Zeitpunkt hätte Marshall, der immer noch seine Nachtmütze trug und dessen Nachtgewand kaum seinen fetten Bauch bedeckte, grotesk gewirkt. Aber nachdem er die Treppe heruntergeeilt war, atmete er schwer, und seine Augen leuchteten, wie bei einem Reiter auf der Jagd, der seiner Beute nahe ist. Resigniert öffnete ich den Mund, um ihm alles zu erzählen. Vielleicht gab es eine Möglichkeit, den König zu warnen – falls sie mir glaubten.
»Es tut mir leid … so schrecklich leid …«, weinte Anne. Es war das erste Mal seit dem Feuer, dass ich sie weinen sah. Ich sprang auf und hielt sie fest. Sie versuchte zu sprechen, aber die Tränen flossen nur umso stärker.
»Meine Liebe«, sagte Betsy Cromwell, »ich weiß, dass Richard Stonehouse Euer Schwiegervater ist, aber Tom tut genau das Richtige.«
»Tom hat ihn doch gar nicht gesehen. Ich war es … ich dachte, ich hätte ihn gesehen«, sagte Anne mit Ungestüm.
»Gedacht?«
»Ich … ich war aufgeregt, wegen Lord Stonehouse’ Tod, und …«
»Lord Stonehouse ist tot?«
»Ich bin gegangen. Ohne Tom und, und … in der Kutsche muss ich eingeschlafen sein. Ich hatte solch einen Albtraum, dass ich glaubte, ich hätte Richard gesehen …«
Sie sprach noch weiter. In meine Armen zitterte sie am ganzen Körper. Obwohl es feucht und kalt war, war sie fiebernd heiß. Ich begann zu glauben, was sie sagte, ganz zu schweigen von Betsy Cromwell, die dem verärgerten Marshall zumurmelte, dass Anne seit dem Feuer nicht mehr dieselbe sei. Das stimmte. Es war, als sei alles, was seitdem geschehen war, wie fortgewischt, und wir wären wieder zusammen. Sie klammerte sich an mich, als ich sie nach draußen zur Kutsche brachte. Betsy Cromwell stand unter dem Vordach und bot uns voller Sorge ein Bett an. Ich dankte ihr und sagte, dass es besser sei, wenn ich Anne nach Hause brächte. Nach Hause! Ich hielt sie fest, und sie drückte ihren Kopf an mich.
Erst als sich die Tür hinter Betsy Cromwell geschlossen hatte, löste sie sich von mir, ihr Körper war angespannt, die Augen funkelten. »Ist das wahr? Du gehörst zu einer Verschwörung, um den König zu töten?«
»Nein! Ich gehöre nicht dazu. Nicht wissentlich. Aber die Leute könnten das denken.«
»Nicht wissentlich. Gott helfe uns, das ist Tom, wie er leibt und lebt.« Sie beugte sich vor und küsste mich.
36. Kapitel
Es gehörte lediglich zu Annes vorgetäuschtem Wahnsinn, war nichts als Pose. Natürlich nicht. Aber der weiche Druck ihrer Lippen, das Beben ihres Körpers begleiteten mich, als ich mit Scogman nach Temple Bar ritt. Ich jubelte über die Vernunft in ihrem Wahnsinn, über ihre rasche Auffassungsgabe. Obwohl es nur eine Pose gewesen war, rief es in mir die Erinnerung daran wach, was wir einander einst bedeutet hatten.
»Ich dachte, Ihr wärt drüber hinweg«, sagte Scogman.
»Über was?«
»Liebe.«
»Das bin ich auch«, sagte ich knapp.
»Ellie dachte, Ihr könntet vielleicht das hier brauchen.«
Scogman warf mir eine Lederjacke zu.
Ellie. Die Jacke roch nach ihr, eine sonderliche Mischung aus Hering und Druckerfarbe. Mein Leben kam mir ebenso verworren vor wie die schäbigen Straßen, durch die wir irrten und die im Nebel sämtlich zu sich selbst zurückzuführen schienen. Wir fanden unseren Weg erst, als wir die Pferde anhielten und auf das Plätschern des Wassers lauschten. Keine Glocken läuteten. Das Wetter war zu schlecht für Boote. Plötzliches Gelächter ließ uns beide zusammenschrecken, und wir mussten unsere Pferde zügeln, als wir statt auf Pflaster auf einmal im matschigen Uferschlamm ritten.
Ich glitt vom Pferd und gab Scogman ein Zeichen, es zusammen mit dem anderen festzubinden, dann stapfte ich quatschend durch den Matsch zur gepflasterten Rampe, die von einem Lagerhaus zum Wasser führte. Durch den rußigen Geruch des Nebels nahm ich einen kräftigen Tabakgeruch wahr. Auf der anderen Seite des Hofes sah ich die Lichter des Bootshauses, von wo das Lachen gekommen war. Das
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