Falkenschwur: Die Fortsetzung des Bestsellers »Pestsiegel« (German Edition)

verwundete Soldat einfiel. Ich wanderte umher, wie der König durch den Ostflügel wanderte. Nein. Ganz und gar nicht wie er. Er wusste, wo er war. Für was er stand. Auf welche Seite er gehörte.
    Ich hatte den Soldaten aufgeweckt, der stöhnte, er habe Durst. Ich ging über den Hof, um ihm etwas Dünnbier zu holen. Der Mond war fast voll, spiegelte sich glitzernd in den Pfützen, und die Giebel des Schlosses hoben sich deutlich gegen den dunklen Himmel ab. Ich versuchte, mich in meinen Vater hineinzuversetzen. Er mochte vielleicht eine Armee ausheben, aber er würde sie nicht einsetzen, um sich des Königs zu bemächtigen. Er würde einen Kampf vermeiden, bei dem der König verletzt werden konnte, genau wie wir. Er würde seine Elitetruppe aus Landsknechten einsetzen, um dem König zur Flucht zu verhelfen, und ihn anschließend zur Armee bringen.
    Vielleicht würde es heute Nacht passieren. Oder morgen im ersten Licht des Tages – irgendwo im Ostflügel, wenn der König spazieren ging, in dem Gebäudeteil, der am schwersten zu überblicken und zu bewachen war.
    Ich holte das Bier aus der Küche, in der bis zur Taille entblößte Köche in der Hitze eines zu röstenden Schweins große Krüge davon tranken. Einer verfluchte mich, als ich unvermittelt stehen blieb und ihm den Weg versperrte.
    War des Königs Flucht bereits von innen heraus geplant worden? Wollten Montague und Denbigh darüber reden, als sie mich in der Bibliothek entdeckten? Ich glaubte immer noch, dass der König sein Wort nicht brechen würde. Aber möglicherweise würde er sich überreden lassen, wenn er glaubte, sein Leben sei in Gefahr.
    Ich ging zurück in den Hof. In der Sattelkammer brannten immer noch Kerzen. Ich beobachtete, wie George, Scogman und Nehemiah stritten und hinter den erleuchteten Fenstern auf und ab gingen. Ich sei keiner von denen, hatte mein Vater gesagt. Ihr gehört hierher . Zu den Adligen, den Edelleuten, den in jeder Hinsicht Höherstehenden mit ihrem Ehrenkodex.
    Ehre. War das nicht der größte Betrug von allen? Sie behaupteten, dass sie allein Ehre besäßen. Die Menschen hoben ihren Hut vor dieser Ehre. Saßen in der Kirche hinter ihr, jeder Mann an seinem Platz. Aber war Ehre nicht lediglich ein Name, den sie etwas gegeben hatten, das jedermann besaß? Seit meinen Tagen als Laufbursche, als ich vom Parlament losgerannt war, um Mr Pyms Worte von Mr Ink zu Mr Black zu tragen, war ich ein kleines Glied in einer Kette von Menschen gewesen, die alle das besaßen, was sie Ehre nannten. Aber das hatte ich erst begriffen, als ich in den Gesichtern von George und den anderen sah, was ich verloren hatte. Vertrauen.
    Mein Vater hatte unrecht. Ich gehörte nicht zu ihm und seinen feinen Herren. Aber ich gehörte auch nicht zu den Männern in der Sattelkammer. Ich kehrte zu dem Soldaten zurück, stützte ihn, bis er genug getrunken hatte, und beruhigte ihn, bis er in einen unruhigen, fiebrigen Schlaf sank.
    Ich nahm mein Bündel, um es als Kissen auf den Boden zu legen, doch die Bewegung rief so starke Erinnerungen an jene Zeiten in mir wach, als ich mich, nur mit meinem Bündel auf dem Rücken, auf den Weg gemacht hatte, dass ich einen heftigen Drang verspürte, es erneut zu tun; den Drang, ein Niemand zu werden – oder der Jemand, für den ich mich entschied. Der Wunsch war so lebendig, dass ich, als ich ein Geräusch an der Tür hörte, so rasch zu meinem Messer griff, als sei ich auf der Flucht.
    Es war Scogman. Er blickte auf das Bündel. Glaubte er, ich würde aufbrechen, um mich meinem Vater anzuschließen? Das konnte ich nicht ertragen. Ich warf das Bündel zu Boden. Ich war genug gereist. Falls es Antworten gab, würde ich diese nur finden, indem ich blieb, wo ich war und mich dem stellte, was ich getan hatte.
    »Ich glaube, sie werden versuchen, den König innerhalb der nächsten achtundvierzig Stunden von hier wegzuschaffen. Sie werden nicht warten, bis eine Armee ausgehoben ist.«
    Scogman zog eine Tonpfeife hervor und stopfte sie gemächlich, während ich ihm erzählte, was ich in der Bibliothek gehört hatte. Aus der Küche schallten Geklapper und Rufe über den Hof. Sie räumten die Mahlzeit ab. Bald würde der König sich zurückziehen. Scogman schlug einen Feuerstein an. Er brauchte mehrere Anläufe, ehe er die Pfeife zu seiner Zufriedenheit angezündet hatte.
    »Erzählt es den anderen beiden.«
    »Sie werden mir nicht glauben! Sie glauben, ich sei einer von denen.«
    »Das seid Ihr doch auch.« Er sog