Falkenschwur: Die Fortsetzung des Bestsellers »Pestsiegel« (German Edition)
als ich mit George und Nehemiah näher kam, doch der Ostflügel, in dem ich in der Bibliothek gesessen hatte, war in Finsternis getaucht.
Als sich eine Gestalt aus dem Schatten einiger Bäumen löste, fuhr ich zusammen. Joshua.
»Hört ihr?«
Wir hörten nichts, aber er war ein Mann des Waldes, der nicht nur das Rascheln der Blätter hörte, sondern auch am Klang erkennen konnte, welches Tier darüberlief.
»Dort drüben.«
Für einen Augenblick, als die Wolken den Mond freigaben, sahen wir, wie jemand, dessen Silhouette gegen den Himmel gut zu erkennen war, nicht etwa das Gebäude betrat, sondern es verließ. Eine schlanke Gestalt in höfischer Livree, kaum älter als ein Knabe. Dann hörten wir ihn rennen wie einen Hasen. Zu rufen hatte keinen Zweck. Er könnte es nur eilig haben, ein Mädchen zu treffen. Oder aber eine Nachricht zu überbringen. Sie mussten früher handeln, hatte Montague gesagt. Die Ställe wurden bewacht, doch der Junge könnte nach Althorp laufen und sich dort ein Pferd nehmen.
Wir betraten den Ostflügel und näherten uns den Gemächern des Königs. Browne erblickte uns und erklärte, näher dürften wir dem König nicht kommen. Ich spähte die lange Galerie entlang, hinaus in die Dunkelheit, in die der Junge verschwunden war. Ich ging durch die Bibliothek und die Tür, die Montague am Morgen geöffnet hatte, ehe er mich sah. Fast unmittelbar gegenüber befand sich eine Tür, die abgeschlossen sein sollte. Sie war offen. Wir riefen Joshua und Ben, der auf der anderen Seite der Galerie Wache hielt. Sie schworen beide, dass die Tür verschlossen gewesen war, als sie daran gerüttelt hatten.
Ein mürrischer Diener ging zu einem Brett, an dem allerlei Schlüssel hingen. Der Schlüssel für die Galerietür fehlte. Browne war schockiert und fahrig. Er war ein steifer, redlicher Mann, und ich hielt seine Aufgeregtheit für echt. Vielleicht war es bei dem Streit mit Montague, dessen Zeuge Nehemiah geworden war, um eine Meinungsverschiedenheit wegen des Fluchtplans gegangen: Der vorsichtige und korrekte Browne hielt es für zu gefährlich; Montague, der wesentlich mehr von einem Spieler hatte, beschloss, den Plan trotzdem weiterzuverfolgen. Doch Spekulationen waren sinnlos. Browne würde nichts sagen, außer, dass wir den König nicht stören dürften, der gerade seine Andacht hielt.
»Wie Ihr wünscht«, sagte George. »Joshua, ich will nicht, dass deine Männer noch länger im Freien stehen. Hol sie in die Bibliothek. Wir werden sie dort in Empfang nehmen. Und von hier aus, Tom …« Er öffnete die Tür zu einem Gang, der zur Unterkunft des Butlers führte.
Ich hatte meine Rangabzeichen abgelegt und war wie ein gemeiner Rotrock gekleidet. Ich zog meine Pistole. »Ich kann die Treppe und die Galerie sichern.«
Alles Blut war aus Brownes Gesicht gewichen. »Ihr könnt hier doch nicht kämpfen!«
»Ihr lasst uns keine andere Wahl.«
Je ruhiger George wurde, desto hitziger wurde Browne. »Ihr habt überhaupt nicht das Recht, hier zu sein!«
»Wir haben das Recht, unseren König zu schützen, Sir.«
In den königlichen Gemächern ertönte das schrille Läuten einer Glocke, gefolgt von Stimmengemurmel. Browne biss sich auf die Lippen und eilte hinein. George schob seinen Fuß in die Tür, ehe sie ins Schloss fiel. Wandteppiche mit Jagdszenen im Tudorstil bedeckten die Wände, ohne Zweifel vom ursprünglichen Eigentümer angebracht, der auf den Besuch von Königin Elizabeth gehofft hatte. Es roch nach frischem Lavendel. Auf einem Marmortisch zeigte eine Laternenuhr die zehnte Stunde an. Der Duft und die Jäger auf den Wandteppichen mit ihren erhobenen Spießen bildeten eine unsichtbare Barriere, die jeden Schritt zu einem Frevel werden ließ. George sah mich an. Woher sollten wir wissen, ob es noch einen weiteren Ausgang gab, durch den der König fortgebracht worden sein konnte?
George zog sein Schwert und stürzte voran in den ersten Raum, dann in den nächsten. Voller Entsetzen blieb er mit einem Ruck stehen. Lediglich zwei oder drei Kerzen waren entzündet. Aus dem Halbdunkel tauchte eine geisterhafte Gestalt auf. Erst als eine der Kerzen aufflackerte, erkannte er das vertraute Gesicht des Königs. Und selbst dann hielt sich, mit dem weißen Nachtgewand und der schlaftrunkenen Miene, die Illusion einer Geistererscheinung, bis der König sprach.
»Wer seid Ihr?«
»Eure Majestät«, stotterte George, »I… ich bin hier, um Euch zu beschützen.«
»Ihr wollt mich beschützen. Oder mich
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