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Fallende Schatten

Titel: Fallende Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gemma O'Connor
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können.
    Zusammen mit dem Kaffee brachte der Kellner uns einen Grappa und stand dann, da das Restaurant sich inzwischen fast geleert hatte, etwas unschlüssig herum. Er war guter Laune und zog Daniel wegen »la bella signorina« auf. Offenbar so etwas wie ein Ritual. Er heiterte uns regelrecht auf. Ich glaube, wir waren beide erleichtert, für kurze Zeit unsere Sorgen beiseite schieben zu können. Und zögerten zu gehen. Als der Kellner weggerufen wurde, legte Daniel seine Hand auf meine und nannte mich zum ersten Mal bei meinem Namen.
    »Nell? Darf ich die Tagebücher lesen?«
    »Sie können diese beiden lesen.«
    »Gibt es noch mehr?«
    »Ich glaube schon. Ihr Vater hat versucht, mir das zu sagen … noch ein Tagebuch und eine Kassette mit Briefen. Ich denke, er wollte mir sagen, wo sie ist. Er hat ständig ›Ko‹ und ›aus, aus‹ wiederholt – ich schätze, das bedeutete ›Haus‹. Aber nicht, welches Haus, leider.« Ich zuckte die Schultern.
    »Da gibt es doch eigentlich nur drei Möglichkeiten. Seines, das von Lily und Ihres.« Ich war erleichtert, daß er mich ernst nahm. »Wir können heute Abend oder morgen in Papas Haus nachsehen. Ich habe die Schlüssel. Aber was ist mit dem dritten Tagebuch?«
    »Das wurde gestohlen. Und zwar, da bin ich fast sicher, in der Zeit, als ich in Dublin war. Nach Lilys Tod. Das ist eines der Dinge, die mich beunruhigen – ich halte es für ziemlich wahrscheinlich, daß es entweder Reynolds oder Hanion war.«
    Ich berichtete ihm von Dr. Stockport, und allmählich dämmerte mir, Milo mußte der Mann gewesen sein, an dessen Namen dieser überschwengliche Mensch sich nicht hatte erinnern können. Die Art, wie er »Konservator« gesagt hatte, hatte mich an das Einwecken von Marmelade oder ein ähnlich bescheidenes Unternehmen denken lassen. Er hatte ihn als Fachmann für Bucheinbände beschrieben, nicht als Hersteller von solchen. Seltsam, daß weder ihm noch Daniel klar gewesen war, was für ein Künstler Milo war. Ich verspürte ein prickelndes Gefühl der Befriedigung, daß ich ganz von alleine der Sache so nahe gekommen war; schließlich hatte ich nur Lilys Fahrscheine als Anhaltspunkt gehabt, bevor er Daniel zu mir geschickt hatte.
    »Sie haben bisher nichts von seinen Arbeiten gesehen?« fragte ich ihn.
    »Nie.«
    »Erstaunlich, finden Sie nicht? Ich meine, wenn ich solche Sachen machen könnte, hätte ich gerne, daß die Leute sie sehen, Sie nicht?«
    »Ach«, erwiderte er geheimnisvoll und zog die Augenbrauen hoch. »Aber sie kennen meinen Vater nicht?«
    Lange saß ich da und sah ihn an und versuchte, ihm meine etwas andere Erklärung für Milos Geheimnistuerei darzulegen.
    »Angenommen«, sagte ich bedächtig, »angenommen, Ihr Vater wollte verheimlichen, daß er gelernter Buchbinder war. Dr. Stockport hat gesagt, Arbeit dieser Qualität könne man auf den ersten Blick einem bestimmten Buchbinder zuschreiben – vorausgesetzt, man weiß von ihm. Milo könnte es als eine Art Kennzeichen betrachtet haben. Wenn er also versucht hat unterzutauchen, dann wollte er bestimmt nicht, daß seine ›Handschrift‹ bekannt wird, oder? Andererseits mußte er sich jedoch seinen Lebensunterhalt verdienen …«
    »Er hätte sich umschulen lassen können, schließlich war er als Invalide aus der Marine entlassen worden. Viele Veteranen haben das gemacht.«
    »Als er sein Bein eingebüßt hat?«
    »Ja, natürlich.«
    Darauf gab ich ihm keine Antwort. Er würde noch früh genug herausfinden, daß eine V2 am Verlust des Beines schuld gewesen war. Ich fragte mich, ob er wußte, daß sein Vater schon vorher einen Nervenzusammenbruch gehabt hatte.
    »Das muß lange gedauert haben – wieder gehen zu lernen und so?«
    »Er war etliche Monate im Krankenhaus, und dann mußte natürlich die Prothese angepaßt werden – das Ersatzbein. Im Lauf der Jahre hat es ihm eine Menge Schwierigkeiten gemacht: Infektionen, oder sie hat nicht richtig gepaßt … Im Haus hat er sie praktisch nie getragen, er hat Krücken vorgezogen.«
    »War das der Grund, weshalb Sie sich für Orthopädie interessiert haben?«
    Er nickte und lächelte etwas gedankenverloren. Mit einem Mal hatte ich nicht mehr den Mut, über die Vergangenheit nachzudenken, geschweige denn darüber zu sprechen. Ich hatte das Gefühl, es wäre ihm lieber, die Geschichte seines Vaters auf die gleiche Weise zu erfahren wie ich die meiner Mutter – allein und ungestört. Ich schob ihm die Tagebücher hin.
    »Nehmen Sie sie mit. Haben Sie

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