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Fallende Schatten

Titel: Fallende Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gemma O'Connor
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kurzem Zögern hakte Daniel sich bei mir ein. Es war Neumond, die Nacht war dunkel, aber mild, als wir die schmale Straße entlangschlenderten. Wir waren fast beim Auto angekommen, als er plötzlich den Kopf zurückwarf und lachte.
    »Auch wir haben etwas gemeinsam. Wenn die Dinge anders gelaufen wären, dann wären wir vielleicht Bruder und Schwester.« Ich hoffte nur, es war dunkel genug, daß er mein Erröten nicht bemerkte. »Und die Eltern?« konterte ich, als wir beim Auto ankamen. »Was wären die?«
    Als er die Beifahrertür öffnete, hauchte er mir einen Kuß auf die Stirn.
    »Auf jeden Fall nicht französisch-englisch«, juchzte er. »Französisch mit einer Spur Irisch. Was halten Sie davon, Nell Gilmore?«
    »Mir soll’s recht sein«, antwortete ich.

27
    Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich einschlief. Verworrene, unruhige Träume voll knurrender, zwitterhafter Gestalten, die bösartig, bedrohlich um mich herumwirbelten; jedes Gesicht ein stetig sich veränderndes Gemisch aus all jenen, die sich seit Lilys Beerdigung so gewaltsam in mein Leben gedrängt hatten. Ich spürte, so wie man das im Traum spürt, Milo und Lily waren da und hielten Wacht, während ich kämpfte.
    Der Schauplatz veränderte sich laufend. In dem einen Augenblick schleppte ich mich aus dem Meer ans Ufer, im nächsten brach ich durch Unterholz, und klauenartige Äste grapschten nach meinen Augen. Dann beobachtete ich den Mord.
    Ich sah die Gestalt eines Mannes, der zu Boden stürzte, während die zwei Teenager aus der Daedalian Road ihren seltsamen rituellen Tanz um ihn herum aufführten. Ihre Fingernägel waren blutrote Krallen, und sie schwenkten ein unheimliches Banner, aus dem grüngoldenen Kleid gemacht. Als sie verschwanden, baumelte es plötzlich in der Luft, wie ein lebloses Gespenst am Galgen.
    Irgendwann mußte ich tief geschlafen haben, denn als ich kurz vor sechs aufwachte, fühlte ich mich einigermaßen ausgeruht. In dem Zimmer war es sehr hell; die weißen Wände schimmerten im Licht. Drunten hörte ich das Geräusch vorbeifahrender Autos und hin und wieder Krankenwagensirenen.
    Als ich so vor mich hin döste, in jenem angenehmen Zustand zwischen Schlafen und Wachen, rasteten die Zahnräder in meinem Gehirn unmerklich ein und begannen sich zu drehen. Die Anhaltspunkte waren da, ich brauchte sie nur zu entschlüsseln.
    Ich begann mit der Annahme, meine Mutter sei getötet worden, weil sie Zeugin jenes lange zurückliegenden Mordes gewesen war. Mit geschlossenen Augen beschwor ich die Szene herauf, wie sie sie beschrieben hatte: das Opfer (Reynolds), der Junge (Milo), der Schütze im Garten, der Radfahrer, die Frau am Fenster, die kleine Zeugin (Lily). Warum hatte Milo so schnell aufgegeben und sich nicht verteidigt? Hatte auch er den Schützen im Garten gesehen? Hatte er ihn erkannt?
    Fünfzig Jahre lang hatte Lily geglaubt, sie allein hätte den Mörder gesehen. Doch Milo war davongerannt und hatte nicht mehr aufgehört zu rennen. Ein paar Tage darauf hatte er Dublin verlassen – soviel hatte ich mir zusammengereimt – und seine Angehörigen nie wiedergesehen. Sie hatten geglaubt, er sei im Krieg gefallen. Und nach jenen ersten Berichten über den Mord waren sie aus dem Bild verschwunden.
    Warum hatte Milo nie Verbindung mit Lily aufgenommen? Milo hatte etwas an sich, das mir angst machte. Härte oder schieres Entsetzen? Hatte er nicht versucht, sie, so gut er konnte, zu beschützen? Laut Lily war Milo unschuldig. Sie hatte es gewußt, weil sie geglaubt hatte, als einzige gesehen zu haben, was geschehen war. Aber laut dem, was beide geschrieben hatten, hatte er das nicht gewußt. Sie hatten ihre Aufzeichnungen erst – wann? – miteinander verglichen? Wann waren sie sich wiederbegegnet? Vor einem Jahr? Vor zwei Jahren, vor drei?
    Das fehlende Tagebuch könnte diese Frage vermutlich beantworten. Oder doch nicht? Verdammt, verdammt, verdammt.
    Ich driftete in den Schlaf ab und tauchte wieder darauf aus, aber auf irgendeiner Ebene arbeitete es die ganze Zeit in mir weiter. Und dann fiel mir ein, Lily hatte einen weiteren Anhaltspunkt hinterlassen: die Busfahrscheine nach Oxford. Ich hatte sie lediglich durchgeblättert, die Offenbarung, wohin sie gefahren war, hatte mich derart verblüfft, daß ich nicht daran gedacht hatte, sie mir genauer anzusehen.
    Aber ich habe ein gutes Zahlengedächtnis, und ich konnte mich genau erinnern, wie viele es gewesen waren – zweiundzwanzig. Langsam ging ich ihre Ausflüge von hinten her

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