Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 1 - Der unsterbliche Prinz
zwischen den Schwestern veränderte sich fast unmerklich die Atmosphäre im Tempel. Vielleicht deshalb, weil mir nun bewusst war, dass Diala mich beobachtete, oder vielleicht war es auch die unterschwellige Spannung, die jetzt zwischen den beiden Frauen herrschte. Die Stimmung bei den Mahlzeiten war angespannt, die Tischgespräche plötzlich voll hintergründiger Bedeutungen. Wenn Arryl merkte, dass etwas nicht stimmte, dann sagte sie jedenfalls nichts. Vielleicht war sie der Ansicht, ihre Ermahnung an die Schwester hätte ausgereicht.
Aber ich war schließlich von niemandem gewarnt worden, dachte ich und konnte meine Augen nicht von Diala losreißen. Ich begann ihr im Tempel zu folgen – heimlich und unauffällig, wie ich dachte –, selbst wenn sie die Felsklippen hinunterkletterte, um ihr langes dunkles Haar zu waschen. Dabei zeichnete sich ihr Körper in allen exquisiten, quälenden Einzelheiten durch die Falten ihres weißen Wickeltuchs ab, das praktisch durchsichtig wurde, wenn es nass war.
Ich dachte schon, allmählich würde ich verrückt, so sehr begehrte ich sie. Noch nie hatte ich eine Frau so begehrt wie Diala. Nicht einmal Gabriella. Reichlich schräg, wenn man bedenkt, dass ich immer noch der Ansicht war, mein Lebenszweck bestünde darin, eine Heldentat zu vollbringen, die mich in den Augen meiner Schwester und meiner Liebsten rehabilitieren würde.
Seltsam, wie ein Mann in seinem Herzen Platz schaffen kann für so vollkommen widersprüchliche Impulse, aber ich schaffte es, und zwar ganz ohne den Konflikt auch nur zu bemerken.
Wie es beim Lauschen so oft der Fall ist, hatte ich mehr Fragen als Antworten bekommen. Ich hatte nicht verstanden, was Arryl mit dem Brechen der Regeln gemeint hatte oder was genau die Beziehung der Kaiserin zum Tempel war. Kein Angehöriger der kaiserlichen Familie kam jemals herauf, um zu beten. Nicht einmal Opfergaben ließen sie schicken. Der einzige Kontakt zwischen dem Palast und dem Tempel der Gezeiten, den ich in den Monaten meiner Genesung beobachtet hatte, war an jenem Tag gewesen, als Arryl vom Palast zurückkehrte und mich auf der Straße fand. Es gab noch einen Besuch von Engarhods Sohn Rance einige Monate später. Er war eben aus Senestra zurückgekehrt und hatte bei uns haltgemacht, um Arryl einige Gewürze zu bringen, die er auf ihre Bitte hin unterwegs für sie besorgt hatte.
Eigentlich verstand ich überhaupt nichts, trotzdem glaubte ich herausgefunden zu haben, was mit der Bemerkung ›keiner von uns‹ gemeint war. Dass ich ein Ausländer war, konnte es nicht sein. Arryl hatte blondes Haar, Diala grüne Augen, somit war keine der beiden Frauen eine echte Magretinerin, das war schon mal sicher. Ich nahm an, dass es um die Religion ging. Schließlich war ich kein Anhänger des Gezeitensterns und verstand ihre religiösen Bräuche nicht. Diala war als Priesterin dem Gezeitenstern geweiht und ich nur ein dahergelaufener fremder Heide.
Aber die Zeit verging, und obwohl ich mich nach Diala verzehrte, war mir klar, dass der Tag unaufhaltsam näher rückte, an dem Gabriella meinen Bruder heiraten und mir damit auf immer verloren sein würde. Ich weiß, Ihr werdet es für seltsam halten, dass ich immer noch glaubte, ein Recht auf ihre Zuneigung zu haben. Hier saß ich nun, lechzte nach Diala wie ein Hund nach einer läufigen Hündin und stellte mir gleichzeitig eine gemeinsame Zukunft mit Gabriella vor. Ich kann es nicht erklären und habe auch nicht vor, mich dafür zu rechtfertigen. Es war einfach so.
Keinen Augenblick zog ich in Betracht, dass mein großartiger Plan, mich zu rehabilitieren und nach Hause zurückzukehren, schiefgehen könnte. Ihr werdet denken, dass ich inzwischen hätte erkennen müssen, wie dumm mein unbegründeter Optimismus war. Aber dem war leider nicht so. Vielleicht machten mich die Gezeiten deshalb unsterblich. Vielleicht wussten sie, dass ich eine Ewigkeit brauchen würde, um die bittere Lektion zu lernen, und wollten sicherstellen, dass ich die nötige Zeit dafür bekam …
Diala lachte mich nicht aus, als ich ihr gegenüber das Thema Heldentat ansprach. So gut, wie ich sie inzwischen kenne, bin ich sicher, dass sie innerlich fast barst vor Heiterkeit, als ich sie so voll ernster Hoffnung aufsuchte und meine Lage erklärte. Aber mir gegenüber nickte und lächelte sie nur und machte einfühlsame Geräusche an den richtigen Stellen. Ich fand, dass ich ihr meinen Fall mit großer Beredsamkeit darlegte, ich brachte all meine
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