Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 1 - Der unsterbliche Prinz
kultiviertes, zivilisiertes, fortschrittliches Volk … In Glaeba teilte man weder die Vorliebe der Caelaner für blutige Kampfsportarten noch die rigiden Moralvorstellungen der Torlener oder die geheimnistuerischen religiösen Riten der Senestrer. Arkady hatte nur wenige Menschen aus weiter entfernt gelegenen Ländern kennengelernt, somit konnte sie über ihren Charakter nichts sagen, aber ihr eigenes Volk kannte sie gut genug. Die Deseans waren eine der Alten Familien von Glaeba, und Stellan war ein ältester Sohn. Auf ihm lastete die Verantwortung, sein Geschlecht weiterzuführen, denn der Fortbestand der Alten Familien war von nationaler Bedeutung.
Und da liegt der Hund begraben, dachte sie. Das ist sein größtes Problem.
»Du musst dich nicht für ihn entschuldigen, Stellan«, sagte sie zu ihrem Gemahl. Dann lächelte sie. »Sag ihm doch, er soll zu mir kommen und sich selbst entschuldigen. Am besten auf allen vieren. Das wird schon genügen.«
»Na, na …«, tadelte er sie gutmütig. »Lass uns doch nicht kleinlich sein, meine Liebe.«
Tillys Publikum brach plötzlich in Gelächter aus. Mit einem Stirnrunzeln sah Stellan zu der Gesellschaft hinüber, die den Wahrsagetisch umlagerte. »Sollte ich mir Sorgen machen über den Unsinn, den Tilly meiner Nichte erzählt?«
Arkady schüttelte den Kopf. »Anscheinend hat Kylia die Karte der Liebenden gezogen, Cayal und Amaleta. Nach Tillys Ansicht bedeutet das, dass sie einen großen, dunklen, gut aussehenden Fremden heiraten wird.«
»Nun, da wird Kylia wenigstens nicht enttäuscht sein. So sehen über neunzig Prozent der Kandidaten aus, die für die Hand meiner Nichte und Thronfolgerin infrage kommen«, bemerkte Stellan. »Wenn du sicher bist, dass Kylia für ihre unmittelbare Zukunft bei Tilly in guten Händen ist, hättest du dann einen Moment Zeit für mich, meine Liebe?«
Arkady sah zu ihm auf und wunderte sich über seine Bitte. »Stimmt etwas nicht?«
Er schüttelte den Kopf. »Es ist jemand hier, der dich sehen möchte.«
Sie hob fragend eine Augenbraue. »So spät noch? Wer ist es denn?«
»Declan Hawkes.«
5
Declan wartete in Stellans Studierzimmer auf sie. Es war ein großer, hoher Raum, in denselben grandiosen Dimensionen erbaut wie der Rest des Palastes, jede freie Oberfläche entweder vergoldet oder von Künstlerhand bemalt. Die Darstellungen reichten von einfachen Landschaften bis zu mythologischen Szenen aus dem lang verlorenen Buch der Gezeiten. Der Raum war eigentlich ein Kunstwerk für sich: Auf jeder seiner vier Wände war dieselbe Szene zu unterschiedlichen Tageszeiten dargestellt, im Westen bei Sonnenuntergang, im Osten zu Sonnenaufgang; im Norden zeigte sich das Szenario hell und sonnig um die Mittagszeit, während es sich auf der Südwand düster und bewölkt präsentierte, der Himmel von Sturmwolken verdunkelt. Jedes einzelne Möbelstück war daraufhin ausgewählt worden, dass es gut mit den Wandgemälden harmonierte und sie besonders vorteilhaft zur Geltung brachte, bis hin zu Stellans opulentem Schreibtisch mit Beinen aus massivem Elfenbein, die reich mit Schnitzereien verziert waren. Am Anfang, als Arkady nach ihrer Hochzeit mit Stellan in den Palast eingezogen war, hatte seine Pracht sie völlig erschlagen. Inzwischen sah sie kaum noch hin.
»Lady Desean!«, rief der Erste Spion grinsend und kam ihr vom Kamin entgegen, um sie zu begrüßen. Eben hatte er zum Porträt von Stellans Urgroßvater Rocard hinaufgestarrt, der mit gestrenger Miene auf das Zimmer heruntersah, überlebensgroß und in vergoldeter Rüstung dargestellt, mit einem abgeschlagenen Kopf zu seinen Füßen. Hinter ihm ging etwas, das Arkady für ein primitives Dorf hielt, in Flammen auf. Der Blutfürst, so hatte man ihn genannt. Dass die Arks von Lebec inzwischen praktisch ausgerottet waren, ging auf sein Konto.
Arkady eilte durch den Raum und warf sich ihrem alten Freund in die Arme.
»Bei den Gezeiten, Declan, wir haben dich ja seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Was machst du hier in Lebec?«
»Ich habe beruflich hier zu tun. Und dein Gemahl war so freundlich, mir für heute Nacht eine Unterkunft anzubieten.«
»Warum hast du mir nicht gesagt, dass er kommt?«, fragte sie Stellan über die Schulter.
»Ich wusste es doch selbst nicht, bis er eben angekommen ist.« Stellan setzte sich in einen der ledergepolsterten Sessel, die dem Schreibtisch gegenüberstanden, und drehte ihn herum, sodass er dem Ersten Spion ins Gesicht sehen konnte. Stellan
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