Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 1 - Der unsterbliche Prinz
sei es nur, weil seine bloße Existenz sie störte.
Im Grunde blieb ihm nur eine Möglichkeit, entschied er nach einigen Stunden, als die Stadt sich allmählich in der Ferne aus dem Regen löste. Entweder musste er aus Glaeba verschwinden, oder er konnte das Verborgene Tal suchen.
Sein ganzes Leben lang hatte er Gerüchte über ein Tal westlich der Großen Seen gehört, wo die Arks von Amyrantha ein Zuhause gefunden hatten. Als Welpe hatte ihn die Drohung eingeschüchtert, dass er dort niemals hindürfte, wenn er nicht folgsam war. Als er erwachsen wurde, fragte er sich oft, ob die Geschichten von einer Zuflucht für die Hoffnungslosen und Vertriebenen seiner Art auf Wahrheit beruhten. Bevor sie ihn in die Einzelzelle im Rückfälligentrakt sperrten, hatte er im Gefängnis andere Crasii über das Tal sprechen hören. Legende oder nicht, das Verborgene Tal war der Ort, an den alle dachten, wenn sie von Flucht träumten. Der Glaube war so fest und allgegenwärtig, selbst unter den anderen Crasii-Rassen, dass Warlock vorsichtig zu glauben begann, es könnte tatsächlich wahr sein.
Er wusste sogar einen Namen, den Namen eines Mannes, von dem behauptet wurde, er könnte ihn zum Tal fuhren. Shalimar. Die Crasii im Kerker flüsterten diesen Namen voller Ehrfurcht. Er kennt den Weg. Finde Shalimar, zischten sie in den Schatten. Wenn du hier rauskommst, finde Shalimar.
Erfährt dich nach Hause.
Das Problem war, dass niemand wusste, wo dieser Shalimar zu finden war. Er war nichts weiter als ein Name. Gerüchten zufolge lebte er in Lebec.
Zugegebenermaßen nicht gerade viel, aber ein Anfang.
Ein Anfang, der nicht weiterführte als Warlocks Gegrübel. Er war gerade mal vier Stunden in der Stadt Lebec, als sie ihn wieder schnappten.
»Halt!«
Warlock erstarrte und sah sich um. Die Slums von Lebec waren überfüllt und schmutzig, voll mit Leuten, die Arbeit suchten – ohne fachliche Ausbildung bekam man nur die niedrigsten Tätigkeiten –, und Leuten, die an Arbeit gar kein Interesse hatten. Warlock war die Ordnung von Fürst Ordrys Haushalt gewöhnt – und die strenge, aber geregelte Einsamkeit des Rückfälligentrakts. Er war überwältigt von dem Chaos, dem Lärm, den Gerüchen und dem Reigen gnadenloser Armut, der die stinkenden Straßen des Außenbezirks der Stadt beherrschte. Abwässer strömten ungehindert in die vollgeregneten Gossen, während Menschen- und Crasii-Kinder miteinander in den Pfützen planschten und zwischen den Beinen ihrer Eltern umherflitzten, zerlumpt und abgemagert, aber seltsam vergnügt bei ihren Spielen.
Es erstaunte Warlock, wie manche Leute, insbesondere Kinder, noch unter erbärmlichsten Bedingungen ihren Spaß haben, ja sogar richtiggehend glücklich sein konnten. Vielleicht kam es daher, weil sie nie etwas anderes kennengelernt hatten.
Es war beinah Sonnenuntergang, als sie ihn abfingen. Auf den Straßen wimmelte es von Leuten, die jetzt von ehrbarer Arbeit heimkamen, während andere sich aufmachten, um weniger gediegenen Beschäftigungen nachzugehen. Die Leute hasteten durch den Regen und hielten sich ihr Ölzeug über die Köpfe, andere trugen die Kluft verschlissenen Prunks, die unter den Huren und Dieben der Stadt üblich war. Alle schoben sich an ihm vorbei, als wäre er gar nicht da, und versuchten das gärende Scharmützel zwischen dem riesigen Caniden und der Stadtwache zu ignorieren.
Langsam drehte sich Warlock um und sah den Männern, die ihn angerufen hatten, in die Augen. Er zweifelte nicht eine Sekunde, dass ihre Aufmerksamkeit ihm galt.
Er hatte gleich den Verdacht gehabt, dass seine unerklärliche Begnadigung zu schön war, um wahr zu sein.
Die Männer der Stadtwache sahen fesch aus in ihren blauen und grünen Uniformröcken und wirkten in diesem Stadtteil völlig fehl am Platz. Der Trupp bestand aus sechs Mann, alle deutlich sichtbar mit Dolchen und Schwertern bewaffnet. Einer zielte mit der geladenen Armbrust auf Warlock Unklug, dachte Warlock in einem Winkel seines Verstandes, der den Tod nicht fürchtete. Wenn sich der Schuss löste, konnte er leicht einen unbeteiligten Passanten treffen.
»Ja?«, fragte er mit einer Gelassenheit, die er gar nicht empfand.
»Auf die Knie, Hund!«, befahl der Kommandeur des Trupps und trat neben den Mann mit der Armbrust.
»Ich habe nichts getan«, sagte Warlock und sah sich um. Er wischte sich den Regen aus dem Gesicht und erwog seine Fluchtmöglichkeiten. Sie schienen eher dürftig. Die Wachen warteten nur darauf, dass er
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