Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 1 - Der unsterbliche Prinz
nütze und machte mehr Ärger, als er wert war. Also ließ Stellan sie lieber laufen.
Aber einen anderen Crasii auf der Flucht zu verletzen … nun ja, das machte die Sachlage heikel, wie Arkady wusste. Angesichts der natürlichen Feindseligkeit zwischen Feliden und Caniden konnte man Boots nicht einfach laufen lassen. Die Feliden würden Vergeltung fordern, und wenn sie die nicht bekamen, konnten sie aufmüpfig und unkooperativ werden. Niemand war erpicht auf eine Armee aufgebrachter Feliden, von denen jede Einzelne fähig war, einen Menschen mit einem Tatzenhieb vom Hals bis zum Nabel aufzuschlitzen.
Als sie zu den Zwingern kamen, hatte es ganz aufgehört zu regnen. Trotzdem würde Arkady sich später umziehen müssen, ehe sie sich wieder zu ihren Gästen gesellte. Ihre Röcke hatten jetzt schon eine handbreite Schlammkruste, und ihre leichten Abendschuhe waren ruiniert. Eine Delegation Caniden erwartete sie und Jaxyn auf dem zentralen Versammlungsplatz vor den Trennmauern der Zwinger. Viele trugen Fackeln, die in der kühlen Brise flackerten. Die Sklaven sahen besorgt aus, und mit gutem Grund, dachte Arkady, als sie stehen blieb und darauf wartete, dass sie ihr entgegenkamen. Fletch war der Anführer, sein roter Fransenschal, der ihn als ranghöchsten Caniden des Dorfes auswies, wirkte im flackernden Fackelschein so dunkel wie frisch vergossenes Blut.
»Mein Herr. Euer Gnaden«, sagte er mit einer respektvollen Verbeugung. »Ich danke Euch, dass Ihr so schnell gekommen seid.«
»Wo ist die Verletzte?«
»In ihrem Zwinger. Die Feliden haben sich verbarrikadiert und Wachtposten aufgestellt. Wir haben versucht, mit ihnen zu verhandeln …«
»Ich rede mit ihnen«, verkündete Jaxyn und begann sich einen Weg durch die Menge zu bahnen. Die Caniden gaben ihm anstandslos den Weg frei.
»Jaxyn!«, rief Arkady ihm nach, aber er ignorierte sie. Alle Caniden wichen vor dem jungen Mann zurück, als er auf den Zwinger der Feliden zustrebte, und verbeugten sich voll Ehrfurcht, wo er an ihnen vorüberging. Das war etwas, was Arkady schon öfter erbost hatte, obwohl sie nicht so recht wusste, warum.
»Wir hatten keine Ahnung, dass Boots vorhatte, erneut auszubrechen, Euer Gnaden«, beteuerte Fletch und lenkte Arkadys Aufmerksamkeit wieder auf die versammelten Caniden.
»Wie ist Tipsy verletzt worden?«
»Sie stand Wache. Als Boots fliehen wollte, hat sie sie angegriffen.«
»Boots ist aus der Arrestzelle ausgebrochen und hat ihr die Kehle aufgerissen!«, warf Laddie schadenfroh ein. Die Feindschaft zwischen den beiden Crasii-Gattungen war sprichwörtlich – vermutlich schürten die Ältesten auf beiden Seiten sie auch noch unter den Kindern. Jedenfalls wirkte Laddie höchst erfreut, dass die Felide Verletzungen davongetragen hatte. Hier unter seinen eigenen Leuten war seine frühere Nervosität im Palast wie weggeblasen.
»Was hatte sie in der Gefängniszelle verloren?«, fragte Arkady.
Boots war eines der vielen Enkelkinder von Fletch, ein hübsches Geschöpf mit rötlich braunem Fell, großen dunklen Augen und den von Züchtern so geschätzten menschenähnlichen Gesichtszügen. Sie war erst sechzehn und sollte in Kürze ihre Ausbildung im Palast beginnen.
»Sie hat ihre erste Tunika bekommen«, sagte Fletch. »Sie und Lord Aranville hatten darüber gewisse Meinungsverschiedenheiten.«
Dabei war es gewiss nicht nur um die Tunika gegangen, erkannte Arkady. Schamhaftigkeit war eine Moralvorstellung, die den Crasii fremd war, ebenso wie Individualität. Crasii aller Rassen bevorzugten ihren natürlichen Zustand und betrachteten Kleidung als Geziertheit der Menschen, als Statussymbol, aber nicht als Notwendigkeit. Für die meisten hörigen Crasii war die Verleihung ihrer ersten Tunika ein feierlicher Anlass, ein Übergangsritus, der ihre Zugehörigkeit zu den Erwachsenen markierte. Da die Crasii Kleidung nur ihren menschlichen Besitzern zuliebe trugen, vermutete Arkady, dass diesem widerspenstigen jungen Caniden die feierliche Verleihung ihrer ersten Tunika vorgekommen war, als hätte man ihr Kette und Maulkorb angelegt. Und als sie sich dagegen auflehnte, wurde sie mit Einzelhaft in der Arrestzelle bestraft. Seit Boots alt genug war, um zu begreifen, in was für ein Leben sie hineingeboren war, hatte sie ihren Status als Sklavin infrage gestellt und sich bei jeder Gelegenheit lauthals darüber beschwert.
Insgeheim verwünschte Arkady die dumme junge Hündin, weil sie bei ihrer Flucht eine Felide verletzt hatte.
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