Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 1 - Der unsterbliche Prinz
der Gezeiten willen, hört doch endlich mit diesem Schwachsinn auf!«
Arkady sah ihn überrascht an. »Aber warum, Cayal? Ich dachte, Ihr würdet Euch freuen, dass Eure Geschichte so getreulich bewahrt wurde.«
»Das ist nicht meine Geschichte!«, blaffte er. »Es ist ein Märchen. Es war überhaupt nicht so!«
»Ach so?«, fragte Arkady. »Wenn das Tarot unrecht hat, wie seid Ihr dann unsterblich geworden?«
Er drehte sich um und starrte sie an, seine blauen Augen sprühten Funken. Auf der anderen Seite des Korridors sprang Warlock auf, er spürte eine drohende Gefahr, wie er sie bisher nicht gekannt hatte. Selbst Arkady konnte sie fühlen. Als sie wieder sprach, war ihre Stimme sanft, beschwichtigend, tröstend …
»Sagt mir doch die Wahrheit, Cayal.«
»Und wozu? Ihr glaubt mir doch sowieso nicht.«
»Die Wahrheit werde ich glauben.«
Unruhig ging Cayal in seiner Zelle auf und ab, er schien etwas abzuwägen. Dann drehte er sich unvermittelt wieder um und packte die Gitterstäbe. »Ihr wollt es wirklich wissen? Wirklich? Die ganze Wahrheit?«
Arkady nickte. »Die Wahrheit.«
»Dann solltet Ihr Euch bequem hinsetzen«, warnte er sie. »Es ist eine sehr lange Geschichte …«
19
Wenn ich einen einzelnen Vorfall herausgreifen müsste – die eine Tat, die mich ursprünglich auf diesen Weg brachte –, dann wäre das wohl der Moment, als ich Orin umbrachte, den Sohn von Thraxis. Ich tötete ihn im Zweikampf, um die Ehre eines Mädchens zu verteidigen, das ich erst wenige Stunden zuvor getroffen hatte und dessen Namen ich bis zum heutigen Tag nicht kenne.
Was den Streit auslöste, weiß ich noch genau. Auf unserem Weg nach Lakesh hatten ich und meine beiden älteren Brüder in Dun Cinczi Schutz vor einem Schneesturm gesucht. Wir waren auf dem Weg nach Hause, um eine Hochzeit zu feiern – meine Hochzeit. Ich war sechsundzwanzig Jahre alt und stand nur zwei Tage davor, Gabriella von Kippen heimzufuhren, die Liebe meines Lebens, und ich hasste jede Minute, die wir durch diesen verdammten Schneesturm verloren.
Das Lehnsgehöft Dun Cinczi lag in einem kleinen Tal in den Hotendenischen Bergen im Norden von Kordanien. Es gehörte einem Vasallen meiner Schwester, der Königin Planice. Der Herr der kleinen Siedlung, Thraxis, war immer bereit, Reisende bei sich aufzunehmen, die Schutz vor dem Sturm suchten, besonders wenn es sich um Verwandte seiner Königin handelte. Ich war nur ein jüngerer Bruder, zwischen mir und dem Thron standen acht ältere Geschwister, trotzdem standen wir dem Königshaus nahe genug, um von Thraxis als Ehrengäste behandelt zu werden.
Thraxis* einziger Sohn Orin und ich waren von Kindheit an befreundet, und so verbrachten wir einen angenehmen Abend um ein warmes Herdfeuer und tranken mit den anderen Männern des Gehöfts riesige Mengen Met, während draußen der Schneesturm tobte. Soweit ich mich erinnere, wurde die gemütliche Runde zu einem spontanen Junggesellenabend. Alle waren glänzender Laune und prahlten mit ihren Erfolgen bei der Jagd und – vermutlich schamlos übertrieben -beim anderen Geschlecht.
Gerade prahlte Orin lang und breit über eine recht unwahrscheinliche Eroberung, als der Sturm uns die letzten Reisenden des Abends hereinblies. Ich erinnere mich, dass ich aufsah, als ein Schwall eisiger Luft die Ankunft eines nervösen jungen Paares begleitete, das in zerlumpte Pelze eingemummelt war.
Gezeiten, in Kordanien konnte es damals verdammt kalt werden …
Jemand knallte die Tür zu und schnitt den eisigen Luftzug ab, und wir alle schauten auf, um die Neuankömmlinge zu betrachten. Sie wirkten müde und eingeschüchtert, schließlich war das rettende Herdfeuer von einer Horde Betrunkener umlagert. Besonders der Mann schien sehr um den Schutz seiner Frau besorgt, die sich offensichtlich im letzten Stadium der Schwangerschaft befand, mit einem Bauch, der so dick war, dass er beinahe platzte, und sehr erschöpft von ihrer Reise. Wir machten am Feuer Platz für sie, während Thraxis’ Frau mit einer Schüssel geschmortem Wildfleisch und einem Krug herbeigeeilt kam, der vermutlich vergorene Stutenmilch enthielt.
Die hochschwangere Frau aß ihr Mahl hungrig. Orin, der neben ihr saß, betrachtete sie neugierig und legte ihr dann den Arm um die Schulter. Wisst Ihr, wir dachten alle, dass er einfach nur freundlich sein wollte … dass er ihr seine Körperwärme anbot, um zusammen mit dem Feuer das Blau aus ihren Lippen zu verjagen. Die junge Frau war wohl recht
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