Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 2 - Die Goetter von Amyrantha
der Verkaufsstände schlossen bereits für die Mittagspause. Fast alles außer den Tavernen machte über Mittag zu und öffnete erst am späten Nachmittag wieder, wenn die Tageshitze ihren Höhepunkt schon hinter sich hatte.
Tiji hatte kein besonderes Ziel im Kopf. Wie auch? Sie hatte den größten Teil ihres Spaziergangs darauf verwendet, das Gespräch mit Arkady Desean im Geiste noch einmal durchzuspielen und zu überprüfen, was sie hätte besser machen können. Oder was sie tun konnte, um die Dinge wieder in Ordnung zu bringen.
Nicht viel, stellte sie fest. Tiji hatte die dünne Grenze zwischen Dienerin und Freundin missachtet. Sie hatte vorausgesetzt, dass Arkady auf ihre Bemerkungen über die mutmaßliche Beziehung zwischen ihr und dem Ersten Spion ähnlich reagieren würde wie Declan, nämlich so gut wie gar nicht. Er stritt ihre Unterstellungen meist mechanisch ab und ging ohne weiteres Federlesen zur Tagesordnung über.
Die Fürstin von Lebec jedoch war leider nicht so umgänglich, wenn jemand aussprach oder auch bloß mutmaßte, dass es etwas zwischen ihr und Declan Hawkes geben könnte oder möglicherweise einst gegeben hatte. Tiji schob sich durch das Gedränge auf einen Stand zu, der würzige Streifen aus getrocknetem Pferdefleisch feilbot, eine Delikatesse, an der sie Geschmack gefunden hatte, seit sie nach Torlenien gekommen war. Sie fragte sich, ob das so ein wunder Punkt war, weil die Vorstellung Arkady ernstlich kränkte, oder ob sie versehentlich eine alte Wunde aufgerissen hatte.
Vielleicht war da tatsächlich etwas zwischen ihnen ...
Tiji erstarrte mitten in der Bewegung, als sie urplötzlich der Gestank eines Suzerain anwehte. Es war nur ein ganz flüchtiger Reiz, und sie war zu gedankenverloren gewesen, um es genauer zu orten, aber es war da, am Rand ihres Bewusstseins.
Irgendwo in der Nähe lauerte ein Unsterblicher.
Jeder Gedanke daran, ob nun zwischen Declan Hawkes und Arkady Desean etwas lief oder nicht, war verflogen. Tiji schloss die Augen, ließ sich von der Menge anrempeln, ignorierte die Flüche und ließ ihre Sinne umherschweifen auf der Suche nach der Quelle ihrer Wahrnehmung. Es war anstrengend, sich bei dem Lärm und in der Hitze zu konzentrieren. Als ihre Suche keinen Erfolg hatte, öffnete sie die Augen und sah sich um. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um über die Köpfe der anderen Sklaven sehen zu können, was sich als sinnlos erwies, weil sie selbst auf Zehenspitzen einem durchschnittlichen Caniden bloß bis zur Schulter reichte. Sie murmelte eine Verwünschung und drängelte sich wieder durch die Menschenmassen. Vor ihr tauchte eine Taverne auf. Cayals Rasthaus verkündete das über dem Eingang hängende Schild in mehreren Sprachen. Tiji runzelte die Stirn.
Brynden würde sich ja wohl kaum in einer Taverne verkriechen, die Cayals Rasthaus heißt, oder?
Tiji schob sich über den staubigen Marktplatz zu dem Wirtshaus und blieb am Eingang stehen. Der Reiz ihrer Sinne war hier stärker, und es gab keinen Hinweis darauf, dass Crasii unerwünscht waren. Sie holte tief Luft und trat ein. In dem düsteren, beengten Raum der Schankstube war der Gestank des Suzerain beinahe überwältigend.
Sie entdeckte ihn sofort. Nicht Brynden, wie sie befürchtet hatte, sondern Cayal, der unsterbliche Prinz persönlich, stand an der Theke der Taverne, die nach ihm benannt war. Er hielt sich an einem bernsteinfarbenen Glas fest, das offensichtlich hochprozentigen Alkohol enthielt, wie Tiji selbst quer durch den Raum am Geruch erkennen konnte.
Abermals erstarrte sie. Ihr natürlicher Instinkt, Schutz in der Tarnung zu suchen, überkam sie. Das war natürlich Zeitverschwendung. Nicht nur, weil sie ein Gewand trug, das ihre Haut versucht hätte nachzuahmen, sie stand außerdem mitten in der Türöffnung, durch die das Tageslicht in den Raum fiel, und war daher unmöglich zu übersehen.
»Komm rein oder geh raus«, rief der Wirt ihr zu. »Aber steh da nicht rum und versperr die verdammte Tür.«
»Ich suche nach meinem Herrn«, sagte sie rasch und ließ ihren Blick durch den Schankraum schweifen, als würde sie nach jemandem Ausschau halten. »Er ist groß, und ihm fehlt das linke Ohr.«
»Hab so einen hier nicht gesehen. Verzehrst du was, oder gehst du wieder?«
»Entschuldigt die Belästigung, mein Herr«, sagte sie und machte einen raschen Knicks. Cayal hatte nicht einmal in ihre Richtung geblickt. Aber warum auch? Selbst wenn die Gezeiten auf dem Höchststand waren, konnte er
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