Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 2 - Die Goetter von Amyrantha
würde ihm die Entscheidung erleichtern. Sie war die Bewahrerin der Überlieferung, der Kopf des Fünferrats und damit der Kopf der Bruderschaft des Tarot. Es gab niemanden mit besseren Voraussetzungen, ihm den klügsten Kurs zu weisen, und Declan war sicher, dass er ihren Rat brauchte.
»Ich brauche Euch, um Euren Großvater aufzuspüren«, eröffnete ihm Tilly, nachdem die Begrüßungsformalitäten ausgetauscht waren. Es war schon sehr spät, aber das war keine bewusste Hommage an konspirative Umstände, sondern hatte mehr mit Declans Dienstplan als Erstem Spion zu tun. Er war mit einer anonym gemieteten Kutsche gekommen, die nun vor der Tür stand. Dem Fahrer machte es nichts aus zu warten. Er wusste nicht, wer Declan war, aber er erkannte eine schwere Börse am Klang. In dieser ruhigen, exklusiven Nachbarschaft fühlte er sich sicher genug, um auf dem Bock ein wenig zu dösen, während er auf seinen Fahrgast wartete. Declan hatte grinsen müssen, als er sah, wie der Fahrer es sich gemütlich machte, offensichtlich überzeugt, dass sein Kunde hier mit der Dame des Hauses ein amouröses Abenteuer zu bestehen hatte.
Alle Spekulationen über die Phantasien seines Kutschers waren wie weggeblasen, als Tilly mit ihrem Anliegen herausrückte, während sie ihren späten Gast in den Salon führte. Hier flackerte das Licht eines einzelnen Kandelabers auf dem Tisch. Es goss tanzende Schatten in den Raum, warf einen Schleier über die Konturen der Möbel und verwandelte die alte Dame in eine wirklich finstere Erscheinung.
Declan starrte sie verwundert an. »Ich wusste gar nicht, dass er verschollen ist.«
Er hatte ein Lächeln erwartet, doch als sie nur nickte und ihm mit ernster Miene bedeutete, sich an den Tisch zu setzen, erwachten sofort üble Vorahnungen.
»Ich nehme nicht an, dass er im eigentlichen Sinn verschollen ist«, antwortete Tilly und setzte sich ihm gegenüber. »Aber ich habe seit über zwei Monaten nichts mehr von Shalimar gehört, Declan. Ich fange an, mir ernsthaft Sorgen zu machen.«
»Schickt doch jemanden hin, der nach ihm sieht«, schlug Declan vor und fragte sich, warum so eine Nebensächlichkeit sie nach Herino getrieben hatte. »Wahrscheinlich ist er von irgendetwas, woran er arbeitet, so in Anspruch genommen, dass er die Zeit ganz vergessen hat. Ihr wisst doch, wie er sein kann.«
»Er ist nicht in Lebec, Declan«, klärte Tilly ihn auf und fügte dann hinzu: »Ich habe ihn losgeschickt, um Maralyce aufzustöbern.«
Fassungslos starrte Declan die alte Dame an und war sich nicht sicher, was ihn mehr erschreckte - dass sie so etwas Blödsinniges überhaupt vorhatte, oder dass sie seinen alternden Großvater dafür in die Berge schickte.
»Was im Namen der Gezeiten hat Euch geritten -«, er war zu wütend, um den Satz zu beenden. Tilly war die Führerin der Bruderschaft und verdiente seinen uneingeschränkten Respekt, aber im Augenblick verkrampften sich seine Fäuste so fest, dass sie weiß wurden von der Anstrengung, sie still zu halten.
»Wir wussten immer ungefähr, in welcher Gegend Maralyce' Mine liegen muss«, erklärte Tilly mit einem entschuldigenden Achselzucken. »Nachdem Arkady dir nach ihrer Entführung das Terrain beschrieben hat, waren wir in der Lage, den Ort weiter einzugrenzen. Tatsächlich konnten wir Shalimar mit einer exakten Wegbeschreibung ausrüsten.«
»Und dann habt Ihr ihn in die Berge geschickt, allein und ungeschützt, um sich bei steigender Flut einer Gezeitenfürstin zu stellen?«
Sie schüttelte den Kopf. »So war es nicht, Declan. Er ist nicht allein. Aleki hat sich darum gekümmert. Er hat zwei Leibwächter und jede Menge Proviant. Und Maralyce ist ungefährlich.«
»Sie ist eine Unsterbliche, Tilly«, erinnerte er sie, zu wütend, um ihr die gebührende Anrede zuzugestehen. »Und eine Gezeitenfürstin. Ihr könnt die Wörter Gezeitenfürst und ungefährlich nicht im selben Atemzug benutzen, das habt Ihr mir beigebracht, bevor ich laufen lernte.«
»Maralyce hat schon früher versucht, uns zu helfen.«
»Dass sie uns nicht mit dem gleichen sadistischen Vergnügen umbringt, wie ihre unsterblichen Genossen das tun, heißt nicht, dass sie uns zu helfen versucht, wisst Ihr.«
Die alte Dame lächelte. »Ihr seht die Welt so schwarz-weiß, Declan. Gibt es denn für Euch gar keine Grauzonen?«
»Nicht, wenn es um Gezeitenfürsten geht«, gab er zurück. Die Angst um seinen Großvater steigerte seine Verwegenheit. »Was habt ihr Euch dabei gedacht, Tilly?
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