Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 3 - Der Palast der verlorenen Traeume
eigentlich sollte er besser in Jelidien bleiben, wo er keine Gefahr darstellte.
Pellys’ Unzurechnungsfähigkeit war von viel schlichterer Ursache. Vor knapp achttausend Jahren hatte er Cayal in einem Anfall von Depressionen überredet, ihn zu köpfen. Denn, so sagte er sich, auch wenn sein Kopf wieder nachwuchs – wie es jeder abgetrennte Körperteil eines Unsterblichen tat –, würde er unbelastet von den Erinnerungen seines langen Lebens sein.
Nur hatte diese Enthauptung nicht nur den gesamten Inselstaat Magreth zerstört, sondern auch alles an Wissen, Erfahrung und Vernunft, was Pellys schon in die Unsterblichkeit mitgebracht hatte. Er besaß den Geist eines launischen Kindes ohne jedes Urteilsvermögen. Das machte ihn neugierig, amüsant – und unvorstellbar gefährlich.
Wenn man davon ausging, dass Kentravyon, wiederbelebt oder nicht, irgendwo in Jelidien und – hoffentlich – in Lukys’ sicherem Gewahrsam weilte, welcher eine dermaßen mutwillige Demonstration von Macht so früh nach dem Umschlagen der Gezeiten sicherlich unterbinden würde, blieb eigentlich nur Pellys.
Da Cayal nun wusste, nach wem er Ausschau hielt, würde er den anderen Gezeitenfürsten schnell ausfindig machen. Er konnte ihn im Gezeitenstrom spüren, und noch deutlicher, wenn er Kraft daraus zog. Seine Präsenz zog Cayal an wie ein Magnet Eisenspäne.
Am sechsten Tag des Sturms fand Cayal den Unsterblichen auf einer hohen Klippe mit Ausblick auf die Schlachthöfe von Elvere. Wie üblich hatte Pellys sich Geschöpfe gesucht, die dem Tod geweiht waren, um sich an ihrer Sterblichkeit zu weiden. Er saß im Schneidersitz auf dem Klippenrand und trug eine blutbesudelte Lederschürze, die nicht einmal im unablässigen Regen sauber geworden war. Anscheinend faszinierten ihn die Schlachthöfe nicht erst seit Beginn des Unwetters. Cayal vermutete, dass er dort als Schlachter gearbeitet hatte.
»Hallo Pellys«, sagte er, als er die sturmgepeitschte Klippe erklommen hatte, wo der Gezeitenfürst hockte, um sein Werk der Verwüstung gut im Blick zu haben.
Der ältere Mann sah hoch, kein bisschen überrascht von Cayals Auftauchen. Er grinste vergnügt. »Schönes Wetter hast du gemacht.«
Cayal ließ sich auf dem aufgeweichten Boden neben Pellys nieder. Unter ihnen im Hafen kochte das Wasser im Orkan, eine finstere dunkelgraue Suppe, die fast nahtlos mit den Regenwänden verschmolz. »Zeit zum Aufhören, Pellys. Jetzt.«
»Aber ich kann die Gezeiten spüren. Hab sie schon lange nicht mehr gespürt. Fühlt sich gut an.«
»Ich weiß, aber du musst sie jetzt loslassen.«
»Ich hab doch nicht damit angefangen.« Er drehte sich zu Cayal um und runzelte die Stirn. »Ist doch nicht meine Schuld. Warum denken immer alle, dass ich schuld bin?« So war er schon, seit ihm sein Kopf nachgewachsen war. Das war nicht einfach nur kindliche Bockigkeit. Es war, als hätte sein Gehirn bei seiner Regeneration etwas eingebüßt, als fehlte ihm jede Fähigkeit, sich über frühkindliche Funktionslust hinaus weiterzuentwickeln und reifere Prinzipien zu erfassen. Etwa das Prinzip von Ursache und Wirkung.
»Niemand beschuldigt dich, Pellys.«
»Du hast doch damit angefangen, nicht?«
Cayal antwortete nicht. Er sah nicht viel Sinn darin.
»Immer krieg ich die Schuld für Sachen, die du machst.«
»Dann wollen wir es jetzt beenden, bevor noch mehr geschieht, woran man dir die Schuld gibt.«
Darüber schien Pellys einen Augenblick nachzudenken … und dann hörte schlagartig der Regen auf. Ohne die künstliche Beeinflussung durch einen Gezeitenfürsten begann das Wetter sofort, sich zu klären, Die Wolkendecke brach mit unnatürlicher Geschwindigkeit auf und ließ Sonnenstrahlen durch, Lichtspeere so hell, dass Cayal blinzeln musste.
»Besser?«
Cayal nickte. »Viel besser.«
»Ich brauch eine Frau«, sagte Pellys. »So geht’s mir immer, wenn ich in den Gezeiten war.«
»Und bei dieser charmanten Verführungstechnik stehen sie bestimmt schon Schlange, Pellys, mein alter Freund.«
Der Unsterbliche lächelte sonnig. Sarkasmus war an Pellys völlig verschwendet. »Bist du nach Elvere gekommen, um mich zu suchen?«
Cayal war nicht so töricht, Pellys die Wahrheit zu sagen. »Natürlich.«
»Du hast mich schon ewig nicht mehr besucht.«
»Du hattest dich doch versteckt, schon vergessen?«
Das machte Pellys nachdenklich. Er nickte langsam, dann zuckte er die Schultern. »War trotzdem nett gewesen, wenn du nach mir gesucht hättest.«
»Jetzt bin ich
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