Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 3 - Der Palast der verlorenen Traeume
und fragte sich, wie viele noch kommen würden, wenn allgemein bekannt wurde, dass sie hier waren. Wasserscheid hatte mehr zu bieten, als Arkady angenommen hatte. Aus Cydnes Beschreibung hatte sie entnommen, es handele sich um eine morastige Insel mit einem Anlegesteg, einer Taverne und einer Handvoll Hütten am äußersten Rand der Feuchtgebiete, eine elende Existenz inmitten Insekten brütender Sümpfe.
Es stellte sich jedoch heraus, dass es eine Ortschaft mit mehr als tausend Einwohnern war, Menschen und Crasii. Zwar verfugte Wasserscheid unleugbar über eine eindrucksvolle Phalanx von Insekten, von denen die meisten menschliches Fleisch als Nahrungsquelle betrachteten, doch darüber hinaus gab es eine Hauptstraße, mehrere Seitenstraßen und eine beachtliche Anzahl florierender Geschäfte. Wichtigster Erwerbszweig war hier offenbar die Perlmutternte. Da Arkady aus Lebec stammte, wo man weltberühmte Perlen züchtete und das Perlmutt aus den Muschelschalen allenfalls ein wertloses Nebenprodukt war, kam ihr das wie eine absurde Beschäftigung vor. Es war das komplette Gegenteil ihrer bisherigen Erfahrungen. Ansonsten schien hier alles mit dem Ernten von Flachs, Reis, Baumwolle und einigen Getreidesorten zu tun zu haben, was eben so in dieser wässrigen Umgebung gedieh.
»Schließ die Tür ab, wenn du das Tonikum weggestellt hast«, sagte Cydne zu Arkady, als sie die letzte Kiste hochstemmte. »Wenn sich herumspricht, dass wir ein Heilmittel haben, rennen sie uns sicher die Türen ein.«
»Haben wir denn ein Heilmittel?«, fragte sie. Wenn dieses Tonikum so wirksam war, fragte sie sich, warum sie es nicht benutzt hatten, um die Sumpffieber-Fälle in der Klinik in PortTraeker zu retten.
»Aber ja«, versicherte er ihr. »Glaub mir, dieser Stoff wird das Sumpffieber mit Stumpf und Stiel ausrotten.«
Der Pragmatismus der Senestrer verblüffte Arkady immer wieder. Sie war schon überrascht gewesen, dass die Ärztegilde von ihren Mitgliedern verlangte, nicht nur die Reichen zu behandeln, sondern auch die Armen. Als aber eine Abordnung in der Klinik eintraf, um Cydne mitzuteilen, dass er in den Norden entsandt wurde, um eine Sumpffieberepidemie zu bekämpfen, war sie richtiggehend beeindruckt. Die Gilde zahlte nicht nur für die Reise, sie stellten auch Tonikum zur Verfügung, so viel benötigt wurde – umsonst –, und man versicherte Cydne, dass er nur Bescheid sagen musste, sollte er mehr brauchen.
Ihr ganz folgerichtiger Ansatz war: Wenn es gelang, das Fieber an der Quelle zu ersticken, würde es gar nicht erst die Städte erreichen, was unzählige Leben retten würde. Arkady war dennoch erstaunt, dass in einer so von Handel und Gewinnstreben geprägten Gesellschaft überhaupt ein vergleichsweise altruistischer Blickwinkel möglich war. Schließlich entschied sie, es nicht zu hinterfragen. Außerdem war der senestrische Altruismus sehr wählerisch. Sie mochten ja hier sein, um zum Wohl von Senestra unzählige Leben zu retten, aber an Arkadys Lage änderte das nicht das Mindeste.
Arkady stellte die letzte Kiste im Schlafraum neben der anderen ab, die Jojo hereingebracht hatte, schloss die Tür ab und ging gemeinsam mit der Feliden-Leibwächterin wieder nach draußen. Dort fand sie sich mit einem völlig unerwarteten Anblick konfrontiert. In der Schlange der Wartenden stand ein Wesen, das sie im allerersten Augenblick für Tiji hielt. Doch bei näherem Hinsehen fiel ihr auf, dass der silberhäutige Crasii männlich war.
»Da ist ein Chamäleon-Crasii«, sagte sie staunend, als sie Cydne den Schlüssel aushändigte.
Er blickte uninteressiert auf, nahm den Schlüssel und steckte ihn weg. »Na und? Die gibt’s in dieser Gegend so häufig wie Fliegen. Höchstwahrscheinlich sind sie für das Fieber verantwortlich.«
»Ich wünschte, Tiji wäre jetzt hier.« Declans kleine Spionin – so nervtötend sie mit ihrer abschätzigen Art manchmal sein konnte – verzehrte sich so sehnsüchtig danach, zu wissen, ob es noch andere ihrer, Art gab. Endlich hatte Arkady eine Antwort für sie … und niemanden, dem sie es sagen konnte.
»Wer ist Tiji?«, fragte Jojo.
»Eine Chamäleon-Crasii, die ich einmal gekannt habe. Sie gehörte zu einem Freund von mir.«
»Na, hoffentlich hat er sich nichts von ihr eingefangen«, sagte Cydne. »Du kannst als Nächstes die Pritschen im vorderen Zimmer vorbereiten. Wir behandeln die Menschen drinnen und die Crasii hier draußen auf der Veranda.«
Arkady und Jojo verbrachten die
Weitere Kostenlose Bücher