Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 4 - Der Kristall des Chaos
plattgemacht!«, rief er und betrat das Gelände, das wohl einmal ein Tempel gewesen war. Wenn diese Stätte von Menschen in Kentravyons Auftrag gebaut worden war, musste das Ewigkeiten her sein. Jetzt war es eine einzige Ruine, kaum mehr als ein paar moosbewachsene Säulen, die sich der schwindenden Erinnerung an eine ferne Vergangenheit entgegenstemmten. »Was zum Henker ist hier los?«
»Er hat sie getötet.«
Cayal starrte Declan an, dann schaute er auf die Verwundeten, die unnatürlich still zwischen den Ruinen lagen. Keiner gab einen Laut von sich. Alle hatten die Arme über der Brust gekreuzt, und ihre geöffneten Augen starrten so blicklos, wie nur tote Augen starren. Jetzt erst begriff er, wovon Hawkes sprach.
»Ich habe ihre Schmerzen gelindert«, stellte Kentravyon richtig, während die furchtbare Wahrheit zur Gewissheit wurde. »Und diese undankbare Blage pöbelt mich deswegen an.«
Cayal sah sich stirnrunzelnd um. »Aber sie sind alle tot, Kentravyon.«
»Götter sind wesentlich leichter zu verehren, wenn sie die Pein ihrer Anbeter lindern, statt sie zu verschlimmern. Das hast du gesagt. Das habe ich getan. Ihre Schmerzen sind jetzt vorbei. Sie müssen nicht mehr leiden.«
Cayal warf einen raschen Blick auf Declan. Er spürte seine kaum noch zu zügelnde Wut bis hier, wo er stand, was ausgesprochen beunruhigend war, weil der Ratz schon bebte vor lauter unkontrollierter Gezeitenenergie. Die Wellen, die er dabei erzeugte, waren extrem ungleichmäßig und höchst gefährlich. Sie hatten hier Halt gemacht, damit die Gezeiten für ein Weilchen zur Ruhe kamen, und nun verschlissen sie sie noch mehr. Wenn Cayal sich schon dermaßen ausgezehrt fühlte, musste Hawkes – an den Sinnesreiz noch nicht gewöhnt – es zehnfach spüren.
»Komm mir jetzt ja nicht mit ›Wusste ich’s doch‹, Ratz, oder du wirst es bereuen.«
Declan schüttelte den Kopf und ballte die Fäuste, bis die Knöchel weiß wurden. »Was machen wir jetzt bloß?«
»Verschwinden, bevor jemand nach den Verwundeten sieht, wäre mein Vorschlag.«
»Aber er hat sie alle ermordet!«
»Ein guter Grund, sich schleunigst abzusetzen.«
Kentravyon schüttelte den Kopf. »Wir verschwinden nirgendwohin, ehe sich dieser respektlose Niemand nicht bei mir entschuldigt hat.«
»Entschuldigt?«
Hawkes* Weigerung, Kentravyons Wunsch nachzukommen, ergrimmte den älteren Gezeitenfürsten sehr. Cayal spürte das Aufwallen der Gezeiten. Plötzlich donnerte ein weiterer Steinblock durch die Ruine über die ordentlichen Reihen der Toten hinweg, die Kentravyon so sorgfältig zurechtgelegt hatte.
Cayal duckte sich unwillkürlich, als der Klotz über seinen Kopf flog, um weit hinter ihnen im Wasser zu landen. Ein paar Überlebende – die wahrscheinlich gekommen waren, um zu erfahren, was der ganze Tumult zu bedeuten hatte – gerieten in Panik. Überall rannten plötzlich schreiende Menschen herum. Cayal war nicht sicher, ob sie wegen der durch die Luft fliegenden Steinbrocken so kopflos wurden oder weil sie die ersten Toten entdeckt hatten.
Es war allerhöchste Zeit zu verschwinden. Aber keiner der beiden anderen schien das zur Kenntnis zu nehmen. Der Ratz war zu wütend und Kentravyon zu sehr von seiner göttlichen Entrüstung erfüllt.
Wegen solcher Scheiße möchte ich sterben.
Der Gedanke schoss ihm ungebeten durch den Kopf und erinnerte ihn daran, wie unzählbar viele Male er genau so eine Situation schon erlebt hatte. Die Umstände mochten andere gewesen sein, aber das Grundschema – zwei sich bekämpfende Gezeitenfürsten, jeder vollkommen überzeugt, im Recht zu sein – lief letztlich immer auf dasselbe Ergebnis hinaus, und das war immer verhängnisvoll für alle Sterblichen, die das Pech hatten, in der Nähe zu sein.
Als einziger Anwesender mit halbwegs klarem Kopf schaute sich Cayal suchend nach irgendetwas Großem und Flachem um, das vielleicht auf die Schnelle den Teppich ersetzen konnte. Ihr fliegender Teppich – wie Hawkes ihn beharrlich genannt hatte – lag irgendwo am Strand südlich der Ortschaft. Wenn das, was Cayal im Sinn hatte, klappen sollte, blieb keine Zeit, ihn zu holen. Schon wieder ging donnernd ein Gesteinsbrocken hinter ihm ab und schlug unten in das bisschen Dorf ein, was noch übrig war. Da – Cayal erspähte etwas Geeignetes, was vielleicht sogar bessere Dienste leisten mochte als der nicht verfügbare Teppich.
Cayal kehrte den streitenden Unsterblichen den Rücken zu. Er atmete tief durch, berührte die
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