Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 4 - Der Kristall des Chaos
wurde. Bald würde seine Position stark genug sein, um auf sie verzichten zu können.
Im Augenblick jedoch war es noch von Vorteil, sie bei Laune zu halten. »Wer ist weg, Liebes?«
»Deine kostbare kleine Fürstin.«
Jaxyn fluchte leise und fegte die Karte beiseite. »Seit wann?«
»Seit sie geflohen ist. Wohl erst vor ein, zwei Stunden, schätze ich.« Lyna durchquerte den Raum und blieb vor dem Schreibtisch stehen. Sie stützte beide Hände auf die polierte Oberfläche und lehnte sich nach vorn, bis sie ganz dicht vor seinem Gesicht war. Ihr Atem dampfte vor Kälte. Für Temperaturen unempfindlich wie alle Unsterblichen, hatte Jaxyn gar nicht erst Feuer anzünden lassen, und der Raum war eisig. »Ich hab dir doch gleich gesagt, es ist dumm, sie frei im Palast herumstreunen zu lassen.«
Er rührte sich nicht, lehnte sich nicht mal ein wenig zurück. »Ich glaube, du bemerktest nur beiläufig, das könnte unklug sein.«
»Sieht aus, als hätte ich recht behalten, ganz gleich, was für Wortklaubereien du jetzt anstellst.«
»Ist der alte Mann bei ihr?«
Lyna nickte. »Klar. Sie hat ihn doch nicht hier zurückgelassen. Familienbande und so. Gezeiten, sie ist genauso ein öder Familienmensch wie die Spinner aus Syrolees Sippschaft.«
»Dann sind sie noch nicht weit gekommen. Und ich kann dir sogar sagen, wo sie hinwollen.« Er erhob sich und zwang damit seinerseits Lyna, ein Stück zurückzuweichen.
Seine Unbekümmertheit schien ihre Skepsis nur zu schüren. »Bildest du dir wirklich ein, deine kleine Fürstin so gut zu kennen?«
»Ich kenne ihren Hintergrund«, erklärte er und umrundete den Schreibtisch. »Sie hat nur wenige echte Freunde, an die sie sich wenden kann, zumal in Reichweite des Palastes.«
»Sie ist doch längst über alle Berge, Jaxyn. Du hast sie verloren und damit auch jede Möglichkeit, ihren Gatten unter Druck zu setzen, weil du nämlich immer nur mit dem Schwanz denkst, statt deinen Kopf zu benutzen.«
Die Versuchung, Lyna zu schlagen, war geradezu übermächtig. Glücklicherweise war sich Jaxyn im Klaren über die Sinnlosigkeit einer Affekthandlung, die in keinem Verhältnis zu der kurzen Genugtuung stand, die sie ihm bringen würde. Er zügelte seine Hand und grinste Lyna nur höhnisch an.
»Bevor es Nacht wird, ist sie wieder im Palast«, sagte er und schritt über den vornehmen Teppich zur Tür. Schwungvoll riss er sie auf und wandte sich seiner zunehmend überflüssigen Verlobten zu. »Und nun, falls du nichts dagegen hast – ich habe zu tun.«
»Brauchst du Hilfe, um sie einzufangen?«
»Bei dem Wetter kommen sie nicht weit.«
Durch die beiden hohen Fenster, die den Kamin flankierten, blickte Lyna in den blauen Himmel. So ein Tag war selten in Glaeba – hell und klar, sogar ein wenig Wärme in der Wintersonne. »Das Wetter wirkt nicht sonderlich furchterregend.«
»Nein, bis jetzt nicht«, stimmte Jaxyn zu. Dann lächelte er. Er konnte nicht anders. »Gib mir eine Stunde, und wir sehen, wie weit sie gekommen sind.«
Jaxyn war sich wie jeder andere Gezeitenfürst des Risikos bewusst, das es mit sich brachte, das Wetter zu manipulieren. Abgesehen davon, dass er als Ursache unentdeckt bleiben wollte, war das mit ein Grund gewesen, beim Zufrieren der Großen Seen sehr, sehr behutsam vorzugehen. Das Vereisen der Wasserwege war unumgänglich gewesen, um den Einmarsch in Caelum zu erleichtern. Und nur so konnte er sich Syrolee und Engarhod vom Hals schaffen, vor allem aber die Bedrohung loswerden, dass sich während der kosmischen Flut gleich zwei ihm ebenbürtige Gezeitenfürsten auf demselben Kontinent einnisteten, nämlich Elyssa und Tryan. Also war er es ganz langsam, fast unmerklich angegangen.
Dies hingegen war eine völlig andere Ausgangslage. Er brauchte kein großes Unwetter, nichts von Dauer. Nur ein kleines, begrenztes Schneestürmchen, das schlimmstenfalls kleine überschaubare Kollateralschäden anrichtete – nichts, was er nicht handhaben konnte.
Ein Crasii-Bursche brachte ihm sein gesatteltes Pferd. Die beschlagenen Hufe schallten hell auf dem Kopfsteinpflaster vor dem Palast. Jaxyn zupfte ganz sacht an den Gezeiten. Viel zu sanft, um die anderen Unsterblichen auf sich aufmerksam zu machen – bis auf Lyna, die ganz in der Nähe war und zudem den Grund für das Unwetter kannte. Nur gerade eben genug, um ungewöhnlich schnell ein paar Sturmwolken aufziehen zu lassen. So wie an dem Tag, an dem er durch ein gezieltes Unwetter die königliche Barke versenkt und
Weitere Kostenlose Bücher