Fallon, Jennifer - Gezeitenstern Saga 4 - Der Kristall des Chaos
bemerkte Cayal beiläufig, trat an Kentravyons Seite und nahm dessen Schritttempo auf.
Declan überlegte sich eine Reihe passender Antworten, aber keine davon hatte Aussicht auf eine andere Wirkung, als Cayals Aufmerksamkeit darauf zu lenken, dass seine Stichelei ihr Ziel traf. Also sagte er nichts. Stattdessen folgte er den anderen Unsterblichen den Strand hoch, um die Reise nach Glaeba wieder aufzunehmen, und beschäftigte sich mit der Frage, ob er bei seiner Ankunft dort unverzüglich versuchen sollte, Kontakt zur Bruderschaft herzustellen.
Und wie sie wohl reagieren würden, wenn sie erfuhren, dass ihnen mit dem Steigen der Gezeiten nicht nur ein sterbender Ozean ins Haus stand, sondern dass es – zumindest für die Gezeitenfürsten – bei alledem eigentlich gar nicht um die kosmische Flut ging, sondern um eine Ratte.
TEIL II
»Was ist der Grund«, sprach ich, »dass jene Flut, die ich dort seh,
aus Nebeldunst sich hebt an einem Ende,
und dann am andren wiederum im Nebel sich verliert?«
»Was Ihr dort seht«, sprach er, »ist jenes Stück der Ewigkeit,
das nennt man Zeit, bemessen von der Sonne, und ja, sie reicht vom Anbeginn der Welt bis zur Vollendung.«
»The Vision of Mirza« Joseph Addison (1672-1719)
21
»Was für ein Gebäude ist das, Euer Gnaden?« Stellan zerrte die Tasche vom Rücken seines Packpferdes, ehe er Boots antwortete. Die Canide stand in Pelze eingemummelt am Eingang des halb verfallenen Gemäuers. Feine Schneeflocken rieselten lautlos vom Himmel. Die beiden kleinen Rüden waren in einem Tragekorb untergebracht, den Boots schon abgeladen und im Schutz der Ruine auf der bröckelnden obersten Treppenstufe abgestellt hatte. Boots hielt Missy fest an ihre Brust gedrückt und starrte an den überwucherten Mauern der Ruine empor. Der uralte Bau war völlig verwittert und die Karyatiden, die die morschen Dachbalken trugen, kaum noch als weibliche Figuren zu erkennen.
Das alte Gemäuer schmiegte sich an einen kleinen Hügel, aus der Entfernung nahezu unsichtbar. Aber etwas weiter oberhalb ragte eine einsame Felszunge in den Himmel – eine nützliche Orientierungshilfe, wenn man diesen stillen Ort zu finden versuchte. Stellan war nur ein einziges Mal hier gewesen, und das lag schon Jahre zurück. Er war fast ein wenig überrascht, dass er ohne große Mühe wieder hergefunden hatte.
»Ich vermute, es war einmal ein Tempel oder etwas Ähnliches. Ein Überbleibsel aus der Zeit vor dem letzten Weltenende«, sagte er. »Jedenfalls hat Arkady das gemutmaßt.«
»Sie ist auch hier gewesen?« Boots klang überrascht.
»Wir haben die Ruine schon einmal besucht, vor langer Zeit«, sagte Stellan. Er erinnerte sich, wie entzückt Arkady beim Anblick dieser namenlosen Ruine gewesen war. »Das war kurz nach unserer Vermählung. Nyahs Vater hat uns hergeführt. Wir waren zu Besuch in Cycrane, wo ich im Auftrag der glaebischen Krone etwas zu erledigen hatte. Der Prinzgemahl wusste von Arkadys Interesse an Geschichte und hoffte, sie könnte vielleicht einen Hinweis entdecken, wozu das Gebäude ursprünglich einmal gedient haben muss.«
»Was wurde eigentlich aus Fürstin Arkady, Euer Gnaden?« Boots drehte sich um und sah ihn neugierig an.
»Ich wünschte, ich wüsste es, Boots.« Stellan ließ sein Gepäck auf die Stufe neben die Welpen fallen. »Ich habe nichts mehr von ihr gehört, seit ich Torlenien verließ.«
»Glaubt Ihr, sie ist wohlauf?«
»Das hoffe ich. Ich habe jemanden losgeschickt, der sie sucht und sich um sie kümmern wird – falls er sie findet. Unter den gegebenen Umständen ist das wohl alles, was ich tun kann, fürchte ich.«
Boots lächelte ihn aufmunternd an. »Sie ist bestimmt in Sicherheit. Jedenfalls hoffe ich das. Ich mochte Eure Gemahlin, Euer Gnaden. Wir alle mochten sie. Sie war immer gut zu uns Crasii.«
Stellan nickte zustimmend. Bei allem, was in letzter Zeit geschehen war, konnte man beinahe vergessen, dass es einmal eine Zeit gegeben hatte, in der Boots seine Sklavin gewesen war und Arkady die Herrin über sein Anwesen. Eine kluge Herrin, die den Pflichten der Gemahlin eines Fürsten besser nachgekommen war, als er je zu hoffen gewagt hatte.
»Ich bin zuversichtlich, dass Arkady sich schon irgendwie durchgeschlagen hat, Boots. Aber jetzt sollten wir dich und die Welpen nach drinnen bringen, ehe ihr alle erfriert, ja?«
Die Crasii nickte und ging zum Eingangsportal. Einer der großen Dachpfeiler war unter der Last der Jahre eingestürzt, sodass
Weitere Kostenlose Bücher