Falsch gespielt: Kriminalroman (German Edition)
eine Viertelstunde draußen vor dem Restaurant gestanden und sich unterhalten, bevor sie fortgegangen seien. Wer in welche Richtung gegangen sei, darauf habe das Personal nicht geachtet. Sie hätten nicht beobachtet, dass Erlandsson – oder irgendein anderer aus der Gruppe – im Laufe des Abends mit einem der anderen Gäste Kontakt gehabt hätte. Auch habe keiner von ihnen einen auffällig angetrunkenen Eindruck gemacht.
Zurück in der Polizeiwache ging Sjöberg auf dem Weg zur Kaffeeküche an Gäddans Raum vorbei, ohne sich bei ihr bemerkbar zu machen. Warum, darüber war er sich nicht so ganz im Klaren; ihm war vieles in seiner Einstellung gegenüber Hedvig Gerdin ein Rätsel. Ihn irritierte vieles an ihr. Zum Beispiel, dass sie eine Frisur hatte wie eine alte Tante und sich kleidete wie ein Teenager – an einem Tag. Um am nächsten Tag einen Plisseerock mit Schleifenbluse zu tragen. Oder ein quergestreiftes Marimekkokleid im Siebzigerjahrestil. Soweit Sjöberg es beurteilen konnte, hatte die Frau überhaupt keinen Geschmack. Als ob das etwas zu bedeuten hätte. Gerade für ihn, der sich immer etwas darauf eingebildet hatte, dass er Menschen nicht nach ihrem Äußeren beurteilte. Aber ihr ganzes Wesen war so … unvorhersehbar. Es war schwer zu beurteilen, ob sie etwas ernst meinte oder gerade scherzte. Auf der einen Seite war sie gern bereit, alles mögliche durch den Kakao zu ziehen und konnte eine geradezu unverschämte Klappe riskieren. Auf der anderen Seite war sie in der Lage – und Sjöberg verstand ihren Ansatz dabei als äußerst seriös – Zusammenhänge und Ereignisse aus mehr oder weniger absurden Perspektiven zu erkennen. Und dann war da noch diese verdammte Dauerwelle … Es passte einfach nicht zusammen.
Wo auch immer die Ursachen dafür lagen, er spürte dieses irrationale Gefühl der Abneigung in seinem Inneren. Gerdin hatte nichts falsch gemacht, sie war eine gute Polizistin, trotz ihrer Unerfahrenheit. Theoretisch betrachtet war sie eigentlich überqualifiziert, aber sie setzte sich nie aufs hohe Ross oder beklagte sich darüber. Sie erledigte die Aufgaben, die ihr zugeteilt wurden, und noch mehr dazu. Und Sandén liebte sie förmlich. Was Sjöberg erst recht wurmte, was er aber um keinen Preis zeigen wollte.
»Conny?«, hörte er sie aus ihrem Büro rufen.
Selbstverständlich wollte er ohnehin zu ihr kommen, er wollte sich nur erst etwas zu trinken holen. Aber folgsam machte er auf dem Absatz kehrt und trat in ihr Büro, das sie mit Grünpflanzen auf den Fensterbänken eingerichtet hatte und in dem Fotografien von Kindern verschiedensten Alters auf dem Tisch und in den Regalen standen. Es duftete frisch und sauber und ein bisschen nach Parfum.
»Gäddan«, sagte er und ging zu ihrem Schreibtisch.
Sie winkte ihn mit einer Hand zu sich, ohne den Blick vom Bildschirm zu nehmen.
»Komm her, ich zeig dir was.«
Während er um den Schreibtisch herumging und sich hinter ihr aufstellte, drehte sie den Lautsprecher auf und startete einen Film, den sie offensichtlich auf der Homepage des Fernsehsenders TV4 gefunden hatte. Man sah eine Waldlichtung in voller Winterpracht, auf die zwischen den Bäumen heraus ein Mann trat, der einen Stapel Pizzakartons auf den Armen trug. Er folgte einem schmalen Weg und gelangte bald auf eine kleine, freie Fläche, auf der einige Wohnwagen abgestellt waren. Er schaute in die Kamera und begann zu sprechen.
»Es hat damit angefangen, dass ich auf einer Dienstreise in Kalkutta war. Man stieß dort überall auf Bettler und schwerkranke Menschen, und besonders betroffen hatte mich ein kleines Mädchen von vielleicht fünf Jahren gemacht, das einen riesigen Tumor an der Augenbraue hatte, so riesig, dass er das halbe Gesicht bedeckte und sie an einem normalen Leben hinderte.«
»Das ist Sven-Gunnar Erlandsson«, flüsterte Gerdin.
»Mit einem einfachen Eingriff hätte ihr Leben bestimmt ein ganz anderes werden können, aber jetzt saß sie eben an einer Straßenecke und bettelte. Ich wurde von einem Gefühl der Ohnmacht ergriffen, von Hoffnungslosigkeit, und ich wusste nicht, was ich tun sollte. Ihr helfen? Sie in ein Krankenhaus mitnehmen und dort operieren lassen? Aber sie war nicht die Einzige. Ich sah hunderte von Kindern, die genauso viel Hilfe brauchten wie sie. Und Frauen. Kleine, dürre, unterernährte Menschen, deren Existenz davon abhing, dass ihnen der eine oder andere Passant eine Münze zusteckte. Natürlich gab es auch Männer in solchen Notlagen,
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