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Falsch

Falsch

Titel: Falsch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Schilddorfer
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Natalja es geschafft, Russland zu verlassen und sich bis in die Schweiz durchzuschlagen, wohin einer ihrer Onkel, Andrej, bereits 1910 ausgewandert war. Doch vier Wochen vor ihrer Ankunft in Basel war Andrej Fürst Demidow verstorben.
    So stand Natalja eines Tages völlig mittellos, ihre beiden Kinder an der Hand, auf dem Bahnhofsvorplatz und wünschte sich, sie wäre tot.
    Doch da waren noch Stephanie und Alexej …
    So nahm die Fürstin Demidow eine Stelle als Zimmermädchen in einem der großen Hotels an, bezog eine kleine Wohnung mit niedrigen Zimmern unter dem Dach und versuchte zu überleben.
    In der Grippeepidemie 1918/19, die mehr als fünfzig Millionen Menschen weltweit dahinraffte, verlor sie ihre Tochter, ihr Sohn Alexej erkrankte ebenfalls schwer, erholte sich aber wieder.
    Natalja hätte ihm gewünscht, er wäre gestorben.
    Alexej überstand die Krankheit zwar, allerdings war sein Gehirn geschädigt worden, und er war behindert, benötigte unentwegt Pflege und Zuwendung. Das war die Zeit, in der sie oft an Selbstmord dachte und doch nicht den Mut fand, ihn zu verüben. Also weinte sie sich in den Schlaf, verzweifelt über ihre Mutlosigkeit.
    Die Wochen vergingen, und immer mehr russische Emigranten trafen in Basel ein. Während die einen nach Berlin flüchteten, die meisten in Paris strandeten, gingen andere, die wohlhabenderen, in die Schweiz. Rasch bildeten sich sogenannte Zirkel, Hilfs- und Diskussionsrunden, die viele als »Café Heimweh« bezeichneten.
    So lernte Natalja Fürstin Demidow eines Tages bei einer dieser Veranstaltungen auch Samuel Kronstein kennen, den ehemaligen Steinhändler der Zarenfamilie. Natalja hatte ihn sofort erkannt, den großen, schweigsamen und imposanten Mann aus St. Petersburg. Er war ihr vor vielen Jahren bereits einmal begegnet, im Haus ihrer Eltern. Als ihr Vater ein wertvolles Diamanten-Collier aus dem Familienbesitz verkaufen wollte, hatte er einen diskreten Händler gesucht. Der seriöse und renommierte Kronstein war ihm empfohlen worden und hatte damals die Angelegenheit zur vollsten Zufriedenheit ihrer Familie erledigt.
    Aber das war lange her … in einer anderen Welt, auf einem anderen Planeten, in einem anderen Zeitalter, so schien es Natalja.
    Die Fürstin und Kronstein hatten sich nur allmählich angefreundet, ein wenig misstrauisch von seiner Seite und sehr zaghaft von der ihren. Sie, die völlig Mittellose, wollte nicht aufdringlich erscheinen und versteckte ihre abgearbeiteten Hände oft schamhaft unter dem Tisch. Doch vielleicht hatte gerade das den hinter vorgehaltener Hand als so unnahbar verschrienen Kronstein beeindruckt. Sie trafen sich mal öfter, dann wieder Wochen lang nicht.
    Der kinderlose Kronstein nahm Anteil am Tod ihrer Tochter, bezahlte für eine stilvolle Beerdigung und wehrte ab, als Natalja ihn fragte, wie sie sich erkenntlich zeigen könne. »Ich habe alles, was ich brauche, und noch mehr«, hatte der große alte Mann gesagt, seinen Hut gezogen, sich verneigt und war still und leise vom Friedhof verschwunden. In ihrer Handtasche hatte Natalja später ein dickes Kuvert mit Schweizer Franken gefunden, die ihr über die schlimmste Zeit hinweghalfen.
    Ab diesem Zeitpunkt entwickelte sich eine Freundschaft zwischen den beiden ungleichen Emigranten, die das Schicksal in ein neues Leben in einem unbekannten Land geworfen hatte. Jeder von ihnen versuchte auf seine Art, damit fertig zu werden.
    Das alles ging Natalja durch den Kopf, während Kronstein ihr lächelnd Champagner nachschenkte und dann begann, das Abendessen mit dem eigens aus der Küche herbeigeeilten Chefkoch des Trois Rois zu besprechen.
    Als er zufrieden war, wandte sich Kronstein wieder der Fürstin zu. »Wie geht es Alexej?«, erkundigte er sich. »Das ist viel wichtiger als meine Wehmutsphase.«
    »Unverändert, danke der Nachfrage«, antwortete Natalja. »Er sollte nun bereits seit zwei Jahren in der Schule sein, allerdings gibt es hier kein passendes Institut für behinderte Kinder. Und in ein Internat geben will ich ihn keinesfalls und könnte es mir auch nicht leisten. Ich bin Ihnen bereits unendlich dankbar, dass Sie mir tagsüber eine Betreuung ermöglicht haben, sonst könnte ich nicht arbeiten gehen. Aber das Schulproblem ist und bleibt ungelöst.«
    »Das ist traurig und unbefriedigend«, gab Kronstein zu. »Wie gefällt Ihnen Ihr neuer Arbeitsplatz?« Wenige Monate zuvor hatte er Natalja einen Posten in der Privatbank verschafft, die auch seine Konten betreute.

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