Falsch
Menschlichkeit, unsere Moral, unseren Glauben. Wir sind Verräter, blutrünstige Tiere, die ihresgleichen vernichten. Jeder Regenwurm verdient mehr Respekt als wir …«
Verzweifelt riss er das Kissen weg, während ihm die Tränen über die Wangen liefen. »Wo ist meine Waffe, verdammt noch mal?«
»Suchst du die?«, fragte ihn der Schatten und hielt Franz eine Walther P8 vor die Nase.
»Gib sie mir, Paul, jetzt!«, schluchzte der junge Soldat und versuchte, nach der Pistole zu greifen.
»Nie im Leben«, antwortete der Schatten, »erinnere dich an unseren Schwur. Alle für einen, einer für alle. Entweder wir gehen alle, oder es geht niemand.«
»Ich kann ihn verstehen«, kam eine müde Stimme aus den Tiefen des Zimmers, das nach Bohnerwachs und Schweiß roch. »Ich habe es aufgegeben zu zählen, wie viele russische Zwangsarbeiter und Juden in den letzten Monaten verhungert sind oder bei lebendigem Leib bei den Sprengungen zerfetzt oder verschüttet wurden. Es müssen mehr als tausend sein …«
Die Stimme brach ab.
Im Lager war es totenstill. Durch das offene Fenster drang kein Laut. Nur noch das leise Schluchzen des jungen Soldaten war in der Dunkelheit zu hören.
»Dieser Berg ist das Tor zur Verdammnis. Für jeden Meter der verfluchten Tunnel haben Menschen mit Blut bezahlt. Und wir haben dabei zugesehen …«, fuhr die Stimme fort.
»Nein, Ernst, wir haben sogar dabei geholfen«, unterbrach der Schatten, »weil wir an uns gedacht haben, ans Überleben, uns an den Strohhalm geklammert haben, dass dieser Krieg jeden Tag zu Ende sein könnte. Aber er wütet noch immer, wie eine Pest, unaufhaltsam, unaufhörlich … Du hast ja recht, Franz. Vielleicht sollten wir uns alle eine Kugel in den Kopf schießen. Dann wäre es endlich vorbei.«
Die vier Männer schwiegen. Franz hatte die Hände vors Gesicht geschlagen.
Die Verzweiflung war wieder mitten unter ihnen, wie so oft in den letzten zwei Jahren. Sie hatte sich eingenistet, in die Gedanken geschlichen, in den Gedärmen festgekrallt. Keiner der vier jungen Männer konnte ihr entkommen, so sehr er sich auch bemühte.
Jeder Tag im Lager Haiming im Tiroler Inntal war ein neuer Horror.
Mehr als 3500 Zwangsarbeiter, Kriegsgefangene und verurteilte Kriminelle lebten hier auf kleinstem Raum; unterernährt, von Krankheiten gezeichnet, den Schlägen und der Willkür der Wachen und Vorarbeiter ausgesetzt. Unter dem Decknamen »Zitteraal« bauten sie seit zwei Jahren im Auftrag der Luftfahrtforschungsanstalt München an einem gigantischen Projekt: Mit der schier unbegrenzten Wasserkraft des Ötztals soll der größte und modernste Überschall-Windkanal Europas für die Messerschmidt- und Heinkel-Werke in den Tiroler Bergen entstehen.
Der Preis dafür war unvorstellbar hoch.
Unter menschenunwürdigen Bedingungen wurden Kilometer Stollen in den Amberg getrieben, Tag und Nacht, rund um die Uhr. Der Nachschub an Arbeitskräften aus den Konzentrationslagern war scheinbar unerschöpflich. So galt ein Menschenleben weniger als eine Sprengladung. Während russische Arbeiter in den Lagern dahinsiechten, mit Wassersuppe am Leben erhalten wurden, bevor man sie zur Arbeit prügelte und sie in den Stollen krepierten, ging es Kriegsgefangenen anderer Nationen etwas besser. Ihre Überlebenszeit lag im Durchschnitt bei drei Monaten. Juden wurden seit Baubeginn konsequent ermordet: Entweder wurden sie zu Tode geschunden oder bei Sprengungen nicht gewarnt und damit ganz gezielt getötet.
Aus Platzmangel hatte man auch die Angehörigen des technischen Teams oder die verantwortlichen Ingenieure im Lager untergebracht. Auch sie mussten in Stockbetten in schlecht geheizten Baracken schlafen, erhielten das gleiche Essen wie die Gefangenen, wenn auch etwas größere Rationen.
Vor allem aber erlebten sie alles hautnah mit – Strafaktionen, Exekutionen, Quälereien.
Parallel zu den Arbeiten im Berg entstand im Inntal der Rohbau der Turbinenstation, das Herzstück des Windtunnels. Leistung: schier unglaubliche 100000 PS. Unter der Leitung von Ingenieuren, Statikern, Spezialisten aus der Luftforschungsanstalt und den Messerschmidt-Werken wuchsen die Strukturen mit rasender Schnelligkeit. Die Zeit und die vorrückenden Alliierten saßen den Bauherren unerbittlich im Nacken. Es galt, keine Minute zu verlieren. Deshalb baute man in drei Schichten, und das »Material Mensch« starb rund um die Uhr. Die Leichen wurden einfach einbetoniert.
So waren auch die vier jungen Männer im
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